20. Juli 2016

Die andere Seite der Medaille

Von nst1

Rio de Janeiro will als Gastgeber der Olympischen Sommerspiele und der Paralympics glänzen. Doch in Teilen der brasilianischen Metropole herrschen Korruption, Dreck und Not.  Hilfswerke weisen mit Aktionen darauf hin und fordern, dass die großen Sportereignisse auch den Menschen in den Regionen zugutekommen, in denen sie ausgetragen werden.

„Die Stadt spart bei der Müllabfuhr. Ihr könnt euch vorstellen, wie der Müll bei über 30 Grad stinkt, wenn er tagelang draußen steht!“ Ricardo da Conceição Aquino und Leticia Silva Farias, beide 13 Jahre alt, berichten Schülern in Wien von ihrer Heimatstadt Rio de Janeiro. „Dadurch gibt es mehr Moskitos. Viele Menschen werden krank, bekommen Denguefieber und den Zikavirus. Und wenn wir krank werden, gibt es keinen Arzt, den wir uns leisten können. Im Spital musst du stundenlang warten, auch wenn du ein Notfall bist.“

Die Dreikönigsaktion, das Hilfswerk der Katholischen Jungschar, hat die beiden Jugendlichen nach Österreich eingeladen. Schülerinnen und Schüler sollen aus erster Hand erfahren, wie die Olympischen Spiele das Leben der „Cariocas“, der Einwohner Rios, verändern. „Bei uns in der Favela haben wir große Probleme. Wenn du das Wasser aus der Leitung trinkst, wirst du krank.“ Mucksmäuschenstill ist es in der Klasse, wenn Leticia und Ricardo von ihrer Angst vor der Polizei erzählen. „Ich habe schon öfters gesehen, wie ein Polizist einen Jungen schlägt und sie haben auch Pfefferspray verwendet. Von anderen hab ich gehört, dass sie schon viele Kinder und Jugendliche einfach erschossen haben.“ Leticia ärgert sich darüber, wie toll manche Plätze für Olympia herausgeputzt werden, denn die Favela-Bewohner haben wenig davon: „Bei mir im Viertel sind die Wege zu den Häusern sehr schlecht und es dauert lange, bis etwas hergerichtet wird.“

Der Besuch aus Brasilien ist Teil der Initiative „Nosso Jogo“ – „Unser Spiel“, zu der sich 137 österreichische und zwanzig internationale Organisationen und Institute zusammengeschlossen haben. Sie weist auf Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Olympia hin und fordert in einer Petition an den Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees, Thomas Bach, verbindliche Menschenrechtsstandards für Sportgroßereignisse. Die österreichische Kanutin Ana Roxana Lehaci und der Segler Andreas Hanakamp unterstützen die Ziele von „Nosso Jogo“ ebenso wie Sportminister Hans Peter Doskozil und die Sportsprecher der verschiedenen Parteien. Bildungsmaterialien und Podiumsdiskussionen über Brasilien wollen eine einseitige und vorurteilsbeladene Sicht des Landes aufbrechen.

Anders als bei der Fußball-WM sind die Sportstätten rechtzeitig fertig, schreibt die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA). Doch die Investitionen haben entgegen den Versprechungen kaum eine positive Wirkung auf Rio, die über die Olympischen Spiele hinausreicht: Die Abwässer sollten zu 80 Prozent geklärt werden. Aber die stinkende Brühe ergießt sich weiter in die Gewässer der Region.

Die 12-Millionen-Metropole ächzt wie das gesamte Land unter einer Wirtschaftskrise, weil die Öl- und Gas-Preise abgestürzt sind. Steuereinnahmen bleiben aus, in den Kassen der Landesregierung herrscht Ebbe. Zwar soll eine neue U-Bahn-Linie drei Wochen vor Start der Wettkämpfe fertig werden. Die Einheimischen klagen jedoch bei vielen Bauprojekten über Fehler bei der Planung, Pfusch bei der Ausführung und Überteuerung: Die schon eingeweihte Schnellbus-Trasse hätte Schlaglöcher, die Busse seien zu klein.
In der Olympiastadt regiert der wirtschaftliche Notstand, resümiert der KNA-Bericht, die „Cariocas“ hätten daher gar keinen Kopf für die Spiele: Viele Krankenhäuser seien geschlossen, Lehrer streiken, weil ihr Gehalt ausbleibt, Beamte warten seit Monaten auf ihre Pensionszahlungen. Ein Symbol für die desolate Lage ist der neu angelegte Küstenradweg: Ein 50 Meter langes Teilstück auf Betonstelzen ist im April unter einer starken Meereswelle zusammengebrochen.

Parallel zu „Nosso Jogo“ in Österreich läuft in Deutschland die Olympia-Kampagne „Rio bewegt. Uns“ von einem Bündnis aus Sportverbänden und Hilfsorganisationen wie Adveniat, Misereor und Kolpingwerk. Beide Initiativen unterstützen in Brasilien Sozialprojekte: Das Sport- und Sozialzentrum Armindo da Fonseca, das zwischen den Hütten von vier Favelas liegt; die von Ordensschwestern geführte Ganztagsschule „Nossa Senhora do Amparo“ im Stadtteil Jacarepaguá; die Kindertagesstätten „Santa Clara“ und „Pintinho Dourado“ (Goldenes Küken), die Kindern die Grundlage für ein würdevolleres Leben mitgeben wollen; das Kinderheim im Vorort Tinguá–Nova Iguaçu, in dem körperlich und geistig behinderte Jugendliche ein neues Zuhause finden. Alle drei Monate macht der „Straßenkinderbus“ an einem anderen Platz der Stadt Halt. 12- bis 17-Jährige können Computer, Musikinstrumente und Tischtennisplatte nutzen, den „Kampftanz“ Capoeira lernen und immer jemanden finden, der einfach zuhört.

Für Kinder und Jugendliche sind die Favelas ein hartes Pflaster: Zerrüttete Familien, Gewalt, Drogen, Gefängnis, kein Schulabschluss, frühe Schwangerschaften bilden einen Teufelskreis der Armut, aus dem sie nur schwer entrinnen können. „Se essa rua fosse minha“ – „Wenn dies meine Straße wäre“: Ein Zirkusprojekt trägt diesen Titel eines brasilianischen Kinderliedes. Für viele Jungen und Mädchen, deren Leben sich hauptsächlich auf der Straße abspielt, ist es ein Türöffner. Hier können sie Fußball spielen, Sport treiben, Hilfen für Schule, Arztbesuch und den Umgang mit Behörden sowie Mahlzeiten bekommen. In der spielerischen Arbeit als Zirkusartisten lernen sie Geduld, Disziplin und entwickeln Talente. Erfolgserlebnisse bauen ihr zerstörtes Selbstbewusstsein wieder auf. Leticia und Ricardo, die in Wien von ihrer Heimat erzählt haben, sind der beste Beweis dafür. Dank des Projekts tun sich für Kinder wie sie erstmals Perspektiven für die Zukunft auf.

Hundert Tage vor den Sommerspielen wurde die Kampagne „Rio bewegt. Uns“ in der Stadt des Karnevals vorgestellt, berichtete die KNA Ende April. Die Akteure drangen darauf, die Bevölkerung stärker in Planungsprozesse einzubinden. Das sollte weitere Zwangsräumungen wie bei den Olympiabauten in der Favela Vila Autodromo verhindern. Keine Diskriminierung an den Austragungsorten, lautete eine weitere Forderung in Rio. Straßenhändler müssten vor den Sportanlagen verkaufen und so „an Olympia mitverdienen können“, verlangte Adveniat-Geschäftsführer Stephan Jentgens. Ein Schulungsprojekt für Straßenhändler gehört zum Programm der Kampagne. Sie baut auf Erfahrungen der Initiative „Steilpass“ auf, mit der die Verbände schon zur Fußball-WM 2014 in Brasilien den Finger in die Wunde der sozialen Missstände gelegt hatten. Christian Frevel, Leiter der Kampagne, sagte der KNA, das Internationale Olympische Komitee sei anders als der Weltfußballverband FIFA immerhin bemüht, aus den Fehlern vergangener Sportevents zu lernen.

Was können wir tun, bevor sich die Blicke auf die Wettkämpfe in Brasilien richten? „2936 Athlet/innen haben bis jetzt 37 118 km zurückgelegt“, war Mitte Juni auf der Seite www.menschenrechte-sind-olympisch.at zu lesen; 51 117 km waren bei www.rio-bewegt-uns.de/aktiv-werden registriert. Gruppen, Klassen, Gemeinden, Verbände und Firmen können eine Sportart wählen, eine bestimmte Entfernung festlegen, Sponsoren suchen und so einen Spenden- oder Firmenwettkampf organisieren. Wie das genau geht und was für Materialien dafür angefordert werden können, steht auf den genannten Webseiten. Dort können die absolvierten Kilometer eingetragen werden, dort finden sich auch Hintergrundinfos, Quiz, Online-Spiele und geistliche Impulse zur Situation in Brasilien und zur Kampagne sowie Petitionen zum Unterzeichnen. Mehr Fairness und eine größere Langzeitwirkung in der Gesellschaft wollen die Kampagnen erreichen und dabei möglichst viele Menschen mitnehmen. Damit greifen sie den olympischen Gedanken auf, zum Frieden und zur Verständigung zwischen den Völkern beizutragen. Das „schneller, höher, weiter“ in den Sportarenen soll mit einem „sozial stärker, gerechter, umweltfreundlicher“ außerhalb der Stadien einhergehen.
Clemens Behr

www.nossojogo.at
www.menschenrechte-sind-olympisch.at
www.rio-bewegt-uns.de

Rio 2016
In Rio de Janeiro werden vom 5. bis 21. August die 31. Olympischen Sommerspiele der Neuzeit und vom 7. bis 18. September die Paralympics ausgetragen. Unter dem Motto „Lebe deine Leidenschaft“ (Viva sua Paixão) gehen über 9 000 Athleten aus mehr als 180 Nationen an den Start und messen sich in 28 Sportarten bei rund 300 Wettkämpfen.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2016)
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