20. Januar 2009

Bruder Bernhard – Vom Erlangen der Abbruch-Reife

Von nst_xy

Bernhard Samitz (1963 – 2008)
Ende November ist Bernhard gestorben. Im Alter von 45 Jahren. An Krebs. Mich erreichte die Nachricht nur wenige Tage später. Genauer: Sie traf mich gänzlich unerwartet, mit großer Wucht.

Bernhard stand mir einmal sehr nahe, in jenen Jahren meiner Zeit in Österreich. Es ist dann zu einem leisen, fast unmerklichen Bruch zwischen uns gekommen, und wir haben uns aus den Augen verloren.

Das lag wohl nicht zuletzt auch an einer ihm eigenen Bereitschaft, andere Wege zu gehen, bestimmten Bruchlinien denkerisch und lebenspraktisch nachzuspüren – in dieser seiner immer auch traumschweren Heiterkeit, jener eigentümlich selbstbewussten Art, in der er eine Gebrochenheit bekundete, eine Brüchigkeit, einen existenziellen „Knacks“, der das Individuum unserer späten Moderne weniger beschädigt denn unweigerlich prägt als „jener unmerkliche Übergang, der immer und überall vonstatten geht, in uns und um uns herum“ (Roger Willemsen).
Hier bleibt der Betreffende hinter sich und seiner Zeit-Genossenschaft zurück. Als Zurückbleibender aber kann er nun auch neu zu sich selbst aus- und aufbrechen, zu seinen verschütteten, verloren geglaubten Möglichkeiten, den sogenannten „Alternativen“ eines ansonsten ungelebten Lebens: als Möglichkeit, ganz neu geboren zu werden, als gewandelter Blick auf sich und eine Welt, die immer noch im Werden, im Kommen ist – in statu nascendi, im Zustand ihrer Zukünftigkeit und der Lust an einer Gegenwart, die im Zeichen ihrer Vorläufigkeit steht.

Alles geschieht hier zu seiner Zeit, die – was ihre normalen Vorschreibungen und Maßeinheiten (wie Studium und Karriere) angeht – immer die des Unzeitgemäßen ist, von etwas, das zur Unzeit kommt.

An dieser Bruch-Stelle seiner (Lebens-)Verhältnisse hat Bernhard sich denn auch beheimatet. In einem verlassenen, baufälligen Gehöft irgendwo in Oberösterreich. Er füllte diese verwahrloste Eremitage mit Büchern, die im Laufe der Zeit längst aus dem für sie bestimmten Zimmer herausgequollen waren und nach und nach das ganze Haus in Besitz nahmen. Bernhards Leidenschaft galt der Literatur; er war – wie es einer seiner zahlreichen Freunde formulierte – im Grunde mit „seinen Autoren verheiratet“. In dieser literarischen Polygamie (es lag in der Ernsthaftigkeit dieser Verhältnisse keine Spur von Promiskuität) war er offen für die vielen Gäste, die er am Ort seiner Abgeschiedenheit und neu erlangten Abbruch-Reife empfing, die er einlud, mit ihm – in diesem Provisorium – zu leben, wenigstens für einige Zeit. Denn auch hier blieb er immer wieder allein zurück. In Gegenwart seiner Bücher, die ihm den Sinn für das unbedingt Mögliche, für eine immer neu zu entziffernde Lesbarkeit der Welt bewahrten.
Freunde erzählten mir von dem verwilderten Garten, der das Anwesen umgibt als ein anarchisches „Genesisgelände“, in der sich die Wildnis urwüchsiger Worte zeigt und fruchtbar wird.

Das alles erinnert mich an jene nachmodernen Nomaden, die im Rückzug, dem Zurückbleiben, ihrer hochreflektierten Weltfremdheit und einer neoromantischen Lust am Verschwinden zu den sogenannten „neuen monastischen Individuen“ gehören.

Sie zählen seit einigen Jahren für Autoren wie Morris Berman zu den Hoffnungsträgern, die an der Wiedergeburt einer humaneren Kultur aus dem Geist des mönchischen Bildungsideals möglicherweise einmal entscheidenden Anteil haben werden.
Diesen Zurückbleibenden, den unzeitgemäßen Zeitgenossen und all jenen sich selbstbewusst Aussondernden, Sonderbaren, Sonderlingen gilt mein Respekt, die späte Einsicht, ihnen vielleicht nie wirklich gerecht geworden und damit selbst auch ärmer geblieben zu sein. Gleichwie: Bernhard war einer von ihnen.
Herbert Lauenroth

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2009)
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