15. März 2009

Die Quittung

Von nst_xy

„Die Finanz- und Wirtschaftskrise präsentiert die Quittung für Fehlverhalten in vielen Lebensbereichen“, meint der renommierte Wirtschaftsjournalist Volker Wörl in seinem neuen Buch. „Wenn das stimmt“, so schlussfolgert er, „dann muss sich in vielen Bereichen vieles ändern.“ Wir veröffentlichen wichtige Passagen aus der Neuerscheinung.

Die Finanzkrise beweist, dass der Kapitalismus, so wie er in den letzten Jahrzehnten praktiziert wurde, menschenfeindlich, gefährlich, unmoralisch, in gewisser Weise sogar selbstmörderisch ist. Dummheit und Gier, Skrupellosigkeit und auch Betrug haben die Krise angeheizt, Panikreaktionen waren die erste Folge. Sie mündeten in eine weltweite Rezession.

Doch hinter der Finanz- und Wirtschaftskrise steht mehr – nämlich eine „Kulturkrise“. Systeme und Methoden, die Art, wie die Menschen leben und wirtschaften, dies alles funktioniert und stimmt nicht mehr …

Ich sehe fünf grundsätzliche Denk- und Verhaltensweisen, die auf den Prüfstand gehören.

1. Der Glaube an ständiges Wachstum ist gescheitert. Die Frage lautet: In welchem Umfang kann Mengenwachstum durch qualitatives Wachstum ersetzt werden?

Lebensqualität wird in nichtmateriellen Werten gemessen: körperliche und seelische Gesundheit, persönlicher Freiraum, Muße, geglückte Beziehungen, Unversehrtheit der Natur. Nicht für alles kann die Politik sorgen. Wohl aber trägt sie Verantwortung für eine heile Natur, für saubere Luft, unverdorbene Böden, reines Wasser und unverbaute Landschaften. Das verlangt Investitionen im Gesundheitswesen, in der Familien- und Altenpflege, in neuen, umweltfreundlichen Energien.

2. Nächster Denkfehler: Man meint, der Markt regele alles zum Besten.

Diese Meinung geht davon aus, dass die Akteure auf dem Markt stets rational handeln. Tatsächlich wird menschliches Handeln von einem ganzen Bündel emotionaler Regungen bewegt – Freude am Besitz und Vermögen, Lust auf Neues; Neugierde, Nachahmungstrieb, Habgier, Geiz, Neid, Stolz, Angst. Wo aber liegt der Unterschied zwischen Egoismus und legitimem Eigeninteresse?

Klar ist, dass Gier, Skrupellosigkeit oder auch Betrug mit letzterem nichts gemein haben. Es ist rücksichtsloser Egoismus, nur noch auf eine möglichst hohe Rendite zu schielen. Und der Markt regelt eben nicht alles zum Besten. Er ist schon überfordert, wenn er Dinge regeln soll, die in Geld nicht zu bewerten sind – saubere Luft zum Beispiel oder die undurchschaubaren Internationalen Finanzgeschäfte.

3. Drittes Symptom, das auf eine „Kultur- oder Gesellschaftskrise” hinweist: Menschen haben sich mit Dingen beschäftigt, von denen sie nichts verstehen.

Das gilt nicht nur für die Macher in Unternehmen und Politik, es gilt auch für den Bürger, für uns. Unzählige Menschen haben sich anstecken lassen von dem Bazillus Gier, wenn auch nur im Kleinen. Kaum jemand „von uns” hat sich an den gesunden Grundsatz gehalten, nur Geschäfte zu machen, die man durchschaut.

4. Wir stoßen auf den nächsten Denk- und Strategiefehler. Immer mehr ersetzt kurzfristiges Taktieren langfristige Strategie, mit der Folge, dass falsch entschieden wird und falsche Produkte hergestellt werden.

Deutsche Autos wurden in den letzten Jahren allüberall als Meisterleistungen der Ingenieurskunst verkauft. Sie sind komfortabel, leistungsfähig, sicher – aber leider auch ziemlich teuer. Buchstäblich verschlafen hat die Autoindustrie die Tatsache, dass die kommenden Massenmärkte in Asien, Südamerika oder Afrika andere Fahrzeuge verlangen werden: robust, haltbar, sparsam im Verbrauch und viel billiger als jetzt. Hinter den verkehrten Strategien stand beziehungsweise steht offenbar eine falsche Einstellung zur Welt, zur Natur und ihren Gesetzen.

5. Wo bleibt die Moral? Bei der Führung eines Unternehmens ist es wichtig, Verantwortung zu übernehmen für die eben dort beschäftigten Menschen, auch das Wohl der Gesellschaft im Blick zu behalten, dabei aber achtzuhaben, dass das Unternehmen nicht nur überleben kann, sondern auch eine gesicherte Zukunft hat.

Es geht um Wertvorstellungen der Akteure und um die Frage, welche Rolle diese Vorstellungen im normalen Wirtschaftsbetrieb spielen …

Die Frage nach Auswegen aus der Krise ist nicht leicht zu beantworten. Eines nur ist ganz gewiss: Die Krise präsentiert die Quittung für vielfältiges Fehlverhalten in vielen Lebensbereichen. Wenn dieser Befund stimmt, dann muss sich in vielen Bereichen vieles ändern.

In der Krise ist ein starker Staat notwendig. Mit Kritik und Tadel sind die Sünder nicht zu bekehren und ihre Fehler nicht auszulöschen. Auch die Staatsanwälte sollten intensiver hineinschauen in die Büros und Firmenzentralen. Aber die großen Ungleichgewichte sind auf nationaler Ebene nicht lösbar. Deswegen war der Finanzgipfel am 17. November 2008 in Washington so wichtig …

Es ist eine sehr ernste Entwicklung, dass die Angst vor der Krise das Thema Nachhaltigkeit in den Hintergrund gerückt hat. Wie viel Verständnis für den Klimaschutz kann man von Menschen verlangen, die um ihren Arbeitsplatz bangen? So wird gefragt. Aber diese Frage geht von der falschen Voraussetzung aus, dass sich Krisenbekämpfung und Klimaschutz gegenseitig im Weg stehen. Das Gegenteil ist richtig.

Politik ist am wirkungsvollsten, wenn sie Interessen bedient, die dem allgemeinen Wohl gelten, das heißt, wenn sie wertbezogen ist. Noch nie wurde so viel über Werte, ihren Sinn und ihre “Notwendigkeit” gesprochen wie in dieser Zeit. Auch Tugenden, die ganz besonders das Christsein auszeichnen sollen, werden immer mehr gefordert – Nächstenliebe, Solidarität, Anstand, liebevolle Zuwendung, natürlich auch die Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß. Sie werden angemahnt und zugleich vermisst in einer Gesellschaft, die immer mehr nach dem fragt, was ökonomischen Gewinn bringt…

Was wir brauchen, sind Hoffnung, Vertrauen, Gelassenheit. Unzählige Menschen, vielleicht die meisten, fühlen sich dann besonders wohl, wenn sie sich einmal nicht zwischen den an Geld und Zahlen festgemachten Wegweisern bewegen, wenn sie mit Kindern oder Freunden beisammen sind, in angenehmer Gesellschaft ein treffliches Gespräch führen, spazierend die Natur genießen, sich „ihrer” Musik erfreuen oder ein spannendes Buch lesen – wenn sie bei sich sind.

Ist das Sozialromantik? Ich glaube nicht. Die Quittung für die vielen begangenen Fehler hat eine noch unbeschriebene Kehrseite. Dort kann jeder seine eigene Handschrift abgeben.
Volker Wörl

In einer fundierten, spannend zu lesenden Analyse geht der renommierte Wirtschaftsjournalist Volker Wörl den Ursachen der derzeitigen Finanz- und Wirtschaftskrise auf den Grund. Sein aufschlussreiches Buch ist bei aller Schärfe nicht pessimistisch: Es muss sich etwas ändern, aber es kann sich auch etwas ändern! Volker Wörl, Diplom-Volkswirt, ist bekannt als langjähriger Leitender Wirtschaftsredakteur der Süddeutschen Zeitung.

Volker Wörl, Die Quittung. Die Finanzkrise. Und was wir daraus lernen können, Verlag Neue Stadt, München 2009, 128 Seiten, kartoniert, 13 x 21 cm, IS BN 978-3-87996-777-3 EUR (D) 9,90 / (A) 10,20 / CH F 18.80 Bestellen

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März 2009)
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