15. März 2009

Licht für den Dschungel

Von nst_xy

Im Kamerun feierte das Volk der Bangwa das Ende der Trauer über den Tod der Fokolar-Gründerin Chiara Lubich.

Westafrika, im Dschungel, knapp oberhalb desÄquators: Etwa zwanzig mit einer Tunika aus grobem Jutestoff bekleidete Männer treten in die Mitte eines natürlich geformten Amphitheaters. Mit Tanzschritten bewegen sie sich im Rhythmus von Tamtam, Trommeln und anderen traditionellen Musikinstrumenten. Die Menge – über 4000 Menschen aus allen Teilen des Kamerun – vor dem Palast des Fon, des Häuptlings, von Fontem klatscht kräftig im Rhythmus.

Mit dieser Szene beginnt das so genannte „Cry-die”, das Ende der Trauer. Der Ritus gehört zu den kulturellen und religiösen Traditionen der Bangwa, eines Stammes, der in diesem englischsprachigen Teil des Kamerun angesiedelt ist.

80 Prozent der Bangwa sind Anhänger der traditionellen Naturreligion.

Mit dem „Cry-die” nehmen sie eine verstorbene Person in die Reihe ihrer Ahnen auf; sie wird damit für würdig empfunden, für immer von den Bangwa verehrt und angerufen zu werden.

Der „Cry-die” an diesem 10. Januar 2009 ist jedoch mehr als außergewöhnlich. Denn dieses Mal ehrt der Stamm damit eine Europäerin: Chiara Lubich, die Gründerin der Fokolar-Bewegung. Schon bei ihrem letzten Aufenthalt in Fontem im Mai 2000 hatte der Fon ihr den seltenen Ehrentitel Mafua Ndem, „von Gott gesandte Königin” verliehen. Und wenn das überhaupt möglich ist, wird diese Auszeichnung mit dem „Cry-die” nun noch überboten.

Wie kommt die im März 2008 verstorbene Fokolar-Gründerin zu diesen außergewöhnlichen Ehren? „Chiara Lubich hat uns das Leben gerettet,” fasst der Fon von Fontem, Lukas Njifua, schlicht zusammen. Als Stammeshäuptling spricht er im Namen aller. Darüber hinaus lassen die spontanen Zurufe und das zustimmende Klatschen der Menge keinen Zweifel daran, dass er hier nicht nur seine persönliche Meinung zum Ausdruck bringt.

Und Martin Nkafu, selbst gebürtig aus Fontem und Professor für afrikanische Kulturen und Religionen an der Päpstlichen Lateranuniversität und der Gregoriana in Rom, erklärt: „Chiara ist eine von uns. Sie ist keine Weiße für die Bangwa, sondern ein Modell des Lebens und der Liebe.”

Ein Blick auf die Geschichte des Stammes erklärt dies. 1966 hatte der damalige Fon den Ortsbischof in Buea aufgesucht. Die Kindersterblichkeit der Bangwa lag bei 90 Prozent, und der Stamm war vom Aussterben bedroht. Alle traditionellen Riten und Beschwörungen hatten nicht geholfen. Deshalb sollten nun die Christen bei ihrem Gott für die Bangwa beten. Bischof Julius Peeters hatte beim Konzil die Fokolar-Gründerin kennen gelernt und gab ihr die Anfrage weiter. 1966 ließ sich eine Gruppe von Fokolaren, darunter Ärzte und Krankenschwestern, zwischen den wenigen einfachen Hütten von Fontem nieder. Nach und nach entstanden ein Krankenhaus, Schulen, ein College und zahlreiche Häuser und Werkstätten. Die Kindersterblichkeit ging auf zwei Prozent zurück, und die Schlafkrankheit wurde besiegt.

Martin Nkafu, der damals noch ein Kind war und zusammen mit dem jetzigen Fon aufgewachsen ist, berichtet im Blick auf diese Jahre: „Mit ihrer Art haben die Fokolare unsere Vorurteile ausgeräumt gegen alle, die aus dem Westen kamen und denen wir nicht besonders über den Weg trauten. Sie verfolgten nicht bestimmte Interessen. Sie versuchten nicht einmal, uns zu Christen zu machen. Sie haben schlicht und einfach ihren Schwestern und Brüdern gedient, indem sie buchstäblich Tag und Nacht als Ärzte, Krankenschwestern und Lehrer arbeiteten.”

Die beiden Häuptlinge von Fontem und dem Nachbardorf Fonjumetaw sind überzeugt: „Chiara hat mehr gebracht als die wenn auch äußerst notwendige materielle Unterstützung. Sie hat uns eine Spiritualität gebracht, die wir dringend zum Leben brauchen.”

Weil sie wohl diesen spirituellen Hunger und die tiefe Religiösität der Bangwa gespürt hatte, machte Chiara Lubich während ihres Besuchs im Mai 2000 als gerade ernannte „von Gott gesandte Königin”, den beiden Fon den kühnen Vorschlag, „ein starkes und unverbrüchliches Bündnis der gegenseitigen Liebe zu schließen. Es soll wie eine Art Schwur zwischen uns sein, dass wir uns darum bemühen, immer im vollen Frieden untereinander zu leben.” Noch vor ihrer Abreise setzte sie sich mit dem Fon von Fontem zusammen und gemeinsam entwarfen sie ein 30-Punkte-Programm der Neuevangelisierung, in dessen Mittelpunkt die Liebe des Evangeliums steht. Denn, so erklärte die Fokolar-Gründerin damals, „jeder ist völlig frei, anderen Überzeugungen und Religionen zu folgen, aber keiner ist frei, nicht zu lieben.” Seither treffen sich die Häuptlinge und die ganze Bevölkerung regelmäßig, um das Wort Gottes zu vertiefen. Sie erzählen einander dabei auch von den Auswirkungen, die das Leben danach in ihrem Alltag hat. „Unser Leben und das Leben unseres Volkes haben sich dadurch völlig geändert. Die Streitigkeiten um Grundstücksgrenzen, die Trennungen, Verwünschungen und Diebstähle sind sehr zurück gegangen,” berichten der Fon von Fontem und der von Fonjumetaw.

Beide waren deshalb in den vergangenen acht Jahren immer bei den Begegnungen zur Neuevangelisierung dabei und haben außerdem weitere 20 Stammeshäuptlinge und deren Stämme – aus der Gegend von Fontem und bis nach Bamenda – in ihr Bündnis einbezogen. „Das”, so staunen die beim „Cry-die” anwesenden Vertreter der Ortskirche, „ist ganz außergewöhnlich und ein starkes Zeugnis.” Denn normalerweise werden die Fon und ihre Stammesältesten, welche die Aufgabe haben, die Traditionen der afrikanischen Kultur zu wahren, eher als Hindernis für das Christentum betrachtet. In Fontem jedoch werden sie, die in der afrikanischen Gesellschaft so wichtig sind, zu tragenden Säulen eines Mentalitätswandels, der auf gelebten christlichen Werten beruht.

Die vermummten Männer tanzen weiter. Mit langen Stöcken durchkämmen sie barfuss das niedrige Gras. Sie suchen nach der Verstorbenen, die sich entsprechend der Überzeugung der Bangwa auf einer langen Reise befindet. Traurig und niedergeschlagen bilden sie nach einiger Zeit einen Kreis. Nun verlässt der Fon von Fontem seine königliche Tribüne und tritt in die Runde. Man reicht ihm einen lebenden Hahn, den er mit der rechten Hand an den Füßen packt. Mit weiten Armbewegungen vollzieht er den vermummten Männern gegenüber eine Bewegung, die an eine Segnung erinnert. Es ist ein versöhnender Brauch, der die bösen Geister vertreiben soll.

Danach beginnt der Fon einen Tanz, in den auch die Mafua, die Königin, einfällt. Die Menschenmenge wird ganz still. Der Fon und die Gruppe stoßen kehlige Laute aus und singen mit heißerer Stimme.

Durch die Menge läuft ein Beben. Die Gesichter sind jetzt ernst, ergriffen. Sogar die zahlreichen Kinder sind verstummt. Auch die europäischen Gäste spüren: Das hier ist keine folkloristische Vorstellung oder die Wiederbelebung eines alten Brauches. Das hier ist echter, tiefer Schmerz über den Verlust einer geliebten Person.

Eine zarte Frauenstimme stimmt ein Lied an, mit dem Wunsch, die Reise der Mafua Ndem möge gut ausgehen. Einige Tänzerinnen zeigen große Fotos der Fokolar-Gründerin. Leben und Tod verweisen aufeinander. Und nachdem die Tränen getrocknet sind, bricht die Freude über das Leben, das weitergeht, durch – in Tanz, Gesang und Bewegung. Alles ist ein mitreißender Ausdruck des Dankes an den Schöpfer, der täglich neu Leben schenkt.

Und weil entsprechend der afrikanischen Tradition der Geist eines Menschen auf denjenigen übergeht, der ihm nachfolgt, wird bei diesem „Cry-die” im Januar 2009 die neue Präsidentin der Fokolar-Bewegung von den Bangwa besonders herzlich begrüßt: Maria Emmaus Voce ist die „Hüterin des Thrones” und des Erbes, das Mafua Ndem Chiara hinterlassen hat. Der Fon überreicht ihr deshalb eine große brennende Fackel – Symbol für das Licht, das Chiara gebracht hat und das den Dschungel erhellt.
Gabi Ballweg

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März 2009)
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