10. September 2009

Solidarität genügt nicht

Von nst_xy

Mit seiner Enzyklika „Caritas in veritate“ hat Benedikt XVI. eine jahrhundertealte Trennung zwischen Wirtschaft und Sozialem aufgehoben, meint der italienische Ökonomieprofessor Stefano Zamagni. Das Soziale ins Wirtschaftliche zu integrieren, sei eine der Hauptforderungen des neuen Lehrschreibens. Dazu habe der Papst die Kategorie der „Geschwisterlichkeit“ ins Licht gerückt, und das ist – laut Zamagni – mehr als Solidarität.

Ein erster, wirklich neuer Aspekt in dieser Enzyklika ist die Einladung von Papst Benedikt, die Trennung zwischen den Bereichen Wirtschaft und Soziales aufzuheben. Die Neuzeit hat uns in den letzten drei Jahrhunderten ein zweigeteiltes Gesellschaftsmodell vor Augen gestellt: Auf der einen Seite stand der wirtschaftliche Bereich mit seiner eisernen Logik, die sich keiner anderen Gesetzmäßigkeit unterwirft. „Geschäft ist Geschäft!“ – Auf der anderen Seite stand – gewissermaßen als Ausgleich – der soziale Bereich. Das heißt, das Soziale war dafür da, jene Gleichheit und Gerechtigkeit herzustellen, zu der die kapitalistisch orientierte Marktwirtschaft nicht in der Lage war. Der moderne Wohlfahrtsstaat ist im Grunde genommen aus dieser Trennung zwischen wirtschaftlicher und sozialer Sphäre hervorgegangen.

Das Denken des 18. und vor allem des 19. Jahrhunderts – gleich ob es nun dazu tendierte, den Markt seinen eigenen freien Kräften zu überlassen oder aber ihn staatlich zu regulieren – hat dieses Modell der Spaltung zwischen Wirtschaft und Sozialem aufrechterhalten.

Die Enzyklika Benedikts XVI. sagt uns jetzt, dass dieses Denken überholt ist. Wir sind inzwischen in einer nachindustriellen Gesellschaft angekommen, und daher muss das soziale Element in das wirtschaftliche integriert werden, und zwar schnell und vollständig, nicht etwa nur beiläufig oder Schritt für Schritt. Das ist eine bemerkenswerte Neuerung, die es dem Markt erlaubt, zu einem Werkzeug der Zivilisation und der Beziehungen zu werden.
Ein weiterer innovativer und in seinen möglicherweise weit reichenden Auswirkungen noch kaum abschätzbarer Punkt dieses Lehrschreibens ist die Tatsache, dass Benedikt XVI. das Prinzip der Brüderlichkeit in den Mittelpunkt rückt. Die sozio-ökonomische Literatur hebt seit geraumer Zeit hervor, dass sich die Menschen von heute nach Glück sehnen. Aber eine Gesellschaft, die das garantieren will, muss geschwisterlich sein. Solidarität allein reicht nicht mehr aus. Denn Solidarität ist die Voraussetzung dafür, dass aus Verschiedenen Gleiche werden. Die Brüderlichkeit, oder besser: die Geschwisterlichkeit, erlaubt es den Gleichen, auch verschieden zu sein. Eine geschwisterliche Gesellschaft ist immer auch solidarisch; umgekehrt gilt das jedoch nicht. Hier vollzieht die Enzyklika also einen Schritt nach vorn.
Es ist durchaus von Bedeutung, dass in diesem päpstlichen Lehrschreiben das Prinzip der Brüderlichkeit, der Geschwisterlichkeit, ausdrücklich benannt wird; denn auch die neueste Literatur aus den Bereichen Wirtschaft und Soziales hat – bis auf ganz seltene Ausnahmen – die Notwendigkeit einer geschwisterlichen Gesellschaft unterbewertet. Geschwisterlichkeit ist nichts anderes als das in wirtschaftliche Begriffe übersetzte Prinzip der Gegenseitigkeit.

Natürlich ist darauf hinzuweisen, dass Brüderlichkeit, Geschwisterlichkeit, als Denkkategorie keine Neuheit darstellt.

Sie ist schon im 13. Jahrhundert aus dem franziskanischen Denken hervorgegangen und hat später in der französischen Revolution ihren Niederschlag gefunden: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, standen auf deren Fahne. Doch nach der französischen Revolution wurde das Wort „Brüderlichkeit“ praktisch gelöscht und abgeschafft. Mit dieser Enzyklika kann man nun endlich wieder von Brüderlichkeit, von Geschwisterlichkeit reden und sie auch als Kategorie des Denkens verwenden.
Dennoch wäre es falsch, die Aufnahme des Prinzips der Geschwisterlichkeit in die Enzyklika nur dem Ausbruch der derzeitigen Finanzkrise zuzuschreiben. „Caritas in veritate“ verdeutlicht eine Grenze, die dem Kapitalismus innewohnt: nämlich ein Ziel – wie die Gewinnmaximierung – auszumachen und es der ganzen Gesellschaft vorzugeben. Nicht, dass der Profit an sich zu verurteilen wäre, aber er ist zu verurteilen, wenn er der einzige Beweggrund wird. Die Enzyklika bekräftigt, dass der Markt eine Art und Weise ist, wirtschaftliches Handeln zu organisieren. Aber sie schlägt auch vor, den Kapitalismus zu überwinden.

Bezüglich des Prinzips der Brüderlichkeit bringt die Enzyklika Beispiele, die es so noch nicht gab: Es ist die Rede von nichtkapitalistischen Betrieben wie den Genossenschaften, den sozialen Unternehmen oder denen der „Wirtschaft in Gemeinschaft“ (s.u.). Dabei handelt es sich um wirkliche Unternehmen, weil sie für den Markt produzieren. Aber ihr Ziel ist nicht die Gewinnmaximierung. Darf man ihnen deshalb absprechen, echte Unternehmen zu sein?

Die eingangs angesprochene Logik der Trennung zwischen dem wirtschaftlichen und dem sozialen Bereich würde dazu tendieren, solche Unternehmen dem sozialen Bereich zuzuordnen. Hier sagt die Enzyklika: Nein, auch die gehören zum wirtschaftlichen Bereich. Sie stellen eine prophetische Minderheit dar, die beweist, dass man auf dem Markt Bestand haben und seine Regeln einhalten, zugleich aber auch Ziele von gemeinschaftlichem und sozialem Nutzen verfolgen kann.
Stefano Zamagni

Stefano Zamagni
Stefano Zamagni (66) ist Ordinarius für Politische Ökonomie an der wirtschaftlichen Fakultät der Universität Bologna. Er ist Mitglied der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften und Berater des Päpstlichen Rates „Iustitia et Pax“. Zamagni gilt in der italienischen Presse als einer der Zuarbeiter für die neue Enzyklika „Caritas in veritate“.

Die Wirtschaft in Gemeinschaft (WiG)
ist ein Projekt von Unternehmern, Arbeitern, leitenden Angestellten, Verbrauchern, Sparern, Bürgern, Wirtschaftstheoretikern … Den Anstoß dazu gab Chiara Lubich, die Gründerin der internationalen Fokolar-Bewegung, bei einem Besuch in Sao Paolo im Jahr 1991. Ihr Anliegen war es, zu zeigen, dass eine menschliche Gesellschaft möglich ist, in der – nach dem Beispiel der ersten Christengemeinde in Jerusalem – keiner Not leiden muss.

Tragende Säulen des Projekts sind Unternehmen, die sich auf freiwilliger Basis dazu verpflichten, ihren Profit für drei gemeinsame Ziele einzusetzen:

  • Benachteiligten zu helfen durch das Schaffen neuer Arbeitsplätze und durch unmittelbare Nothilfe. Dazu dienen unter anderem auch Entwicklungsprojekte, insbesondere für alle jene, die sich dem Grundanliegen der WiG verbunden wissen.
  • eine „Kultur des Gebens“ und der Gegenseitigkeit zu fördern und zu verbreiten, ohne die eine „Wirtschaft in Gemeinschaft“ nicht zu verwirklichen wäre.
  • das eigene Unternehmen so weiterzuentwickeln, dass es überlebens- und konkurrenzfähig bleibt.

Das Besondere an der WiG besteht in der Tatsache,

  • dass sie aus einer gemeinschaftlichen Spiritualität, der „Spiritualität der Einheit“ hervorgeht;
  • dass sie Effizienz und Geschwisterlichkeit vereinigt;
  • dass sie Gewerbeparks unterhält, in denen das Projekt anschaulich wird;
  • dass sie auf kulturelle und geistliche Kräfte setzt, um wirtschaftliches Handeln zu verändern;
  • dass sie die Armen nicht in erster Linie als ein Problem sieht, sondern als wertvolle Ressource für das Gemeinwohl.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September 2009)
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