15. Juni 2015

„Wie läuft das bei euch?“

Von nst1

Christliche, muslimische und jüdische Kinder lernen, essen und spielen unter einem Dach: Im September 2012 öffnete in Osnabrück Deutschlands erste Drei-Religionen-Grundschule. Zu Besuch in einem Pilotprojekt, das den Blick füreinander schult.

„Es gab Wursteintopf und ich hatte Essensaufsicht.“ Die Drei-Religionen-Grundschule war noch neu. In der „teilgebundenen“ Ganztagsschule essen die Kinder an mindestens zwei Tagen in der Woche auch zu Mittag. Je nachdem, was auf den Tisch kam, haben die Kinder anfangs skeptisch auf ihre Teller geschaut, erinnert sich die muslimische Lehrerin Annett Abdel-Rahman: „Die muslimischen Kinder saßen unschlüssig am Tisch, bis ich den ersten Löffel voll aß. Dann gings rund und der Eintopf war in Nullkommanix weg.“

Die Kinder sind so erzogen, erklärt Abdel-Rahman: Wenn sie nicht sicher sind, ob ein Gericht ihren Speisevorschriften entspricht, rühren sie es nicht an. Für die muslimischen Kinder muss es halal, für die jüdischen koscher sein. Die Schulküche nimmt darauf Rücksicht.

Der Lehrerschaft ist es wichtig, auf die Bedürfnisse der Eltern einzugehen. Viele Schulen haben das Problem, dass muslimische Familien ihre Kinder nicht mit auf Klassenfahrt fahren lassen möchten. Sie befürchten, auf ihre religiösen und moralischen Vorstellungen würde keine Rücksicht genommen. „Daher zeigen wir den Eltern, dass wir genau wissen, worauf wir achten müssen“, erklärt Schulleiterin Birgit Jöring: „Getrennte Schlafbereiche für Mädchen und Jungen, getrennte Dusch- und Toilettenräume. – In der jetzigen Klasse hat schon keine Mutter mehr nachgefragt. Die Eltern sind überzeugt, dass wir alles richtig machen.“

„Warum macht ihr so ein Aufhebens um die drei Religionen?“, wird der jüdische Lehrer Sebastian Hobrack von Lehrern anderer Schulen gelegentlich gefragt. „Auf unsere Schule gehen doch auch Schüler verschiedener Religionen!“ „Stimmt schon“, antwortet Hobrack dann. „Der Unterschied ist, dass unsere Schüler ihre Religion im Schulalltag tatsächlich leben können. Sie gehen in dem Bewusstsein zur Schule, wir sind Juden, Muslime oder Christen, und alle sollen etwas über uns lernen.“ – „Das Besondere ist, dass Religion bei uns einen großen Raum einnimmt“, ergänzt Annett Abdel-Rahman. „Niemand muss seinen Glauben verteidigen oder sich für ihn schämen.“

Die Schule will die Kinder befähigen, anderen ihren Glauben und ihre religiösen Feste und Bräuche zu erklären. Sie üben sich darin bei neugierigen Nachfragen auf dem Schulhof oder zwischen Tür und Angel. Bewusster geschieht das in den zweimal jährlich stattfindenden Projektwochen: „Ich erzähl dir etwas über die Tiere in meiner Religion“, heißt es da, oder: „Ich zeige dir mein wichtigstes religiöses Buch“.

Jede Klasse beginnt die Schulwoche am Montag mit dem Morgenkreis. „Wir beten nicht zusammen“, erzählt Birgit Jöring, „aber finden andere Wege für einen besinnlichen Moment.“ Stehen Ausflüge, Geburtstage oder besondere Feiertage an? Dann wird darüber gesprochen; die Kinder, die sich damit auskennen, stellen den Feiertag vor. Auch ein Rückblick aufs Wochenende hat im Morgenkreis Platz: „Vor einem Jahr hatte ein muslimisches Kind eine Beerdigung erlebt“, berichtet die Schulleiterin. „So haben wir über unterschiedliche Begräbnisrituale gesprochen. Für die Kinder ist es ganz normal, dass sie Mitschüler mit einer anderen Religionszugehörigkeit fragen: Wie läuft das eigentlich bei euch?“

103 Mädchen und Jungen gehen zurzeit in die Drei-Religionen-Grundschule.

Für das neue Schuljahr sind rund 50 angemeldet. Ein Teil der Eltern schätzt vor allem das Ganztagsangebot; viele jedoch geben ihre Kinder wegen des Religionsunterrichts an diese Schule. Während die Schüler in den anderen Fächern zusammen lernen, läuft der getrennt ab. „Mein Beitrag ist, den jüdischen Schülern ihr Judentum schmackhaft zu machen“, sagt Sebastian Hobrack: „Sie sollen Spaß daran haben und stolz auf ihre Traditionen sein.“ Viele Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Osnabrück mit etwa tausend Seelen stammen aus der ehemaligen Sowjetunion. Zwar sind sie zuweilen schon zwei Jahrzehnte in Deutschland, tun sich jedoch schwer, der nächsten Generation jüdisches Leben weiterzugeben. Hobrack will das Selbstbewusstsein der Schüler stärken: „durch Wissen, durch Aneignung der jüdischen Grundlagen.“

Er verschweigt nicht, dass das Judentum Frauen von der Leitung des Kultes so gut wie ausschließt und dass es Stellen in der Heiligen Schrift gibt, die Gewalt rechtfertigen. „Daneben ist die Thora aber auch eines der machtvollsten Statements gegen Sklaverei und für Befreiung“, erläutert Hobrack. „Wir finden in ihr also Keimzellen der Emanzipation, Gleichberechtigung, Teilhabe an der Gestaltung der Gesellschaft. Ich betone diesen Strang der Tradition und schaffe damit Anknüpfungsmöglichkeiten für moderne Staatsbürger, die ich ja hervorbringen will.“

Auch konfessionslose Schüler besuchen die Drei-Religionen-Grundschule; im ersten Jahrgang beträgt ihr Anteil ein Viertel. Auch sie haben sich für einen Religionsunterricht entschieden. Katholische und evangelische Religion wird in den ersten beiden Klassen gemeinsam, danach getrennt unterrichtet.

Vom Schulhof aus ist ein Teil der St.-Johannis-Kirche zu sehen. „Guck mal, eine Kirche – aber da gehen wir nicht hin!“ Was für sie fremd ist, lehnen manche Kinder gedankenlos ab. Annett Abdel-Rahman hat die Äußerung eines muslimischen Jungen in der Pause aufgegriffen: „Wir dürfen als Muslime durchaus in eine Kirche gehen“, hat sie ihm gesagt. „Wir beten dort nicht; wir schauen uns nur an, was Christen dort machen. Letztlich tun sie das gleiche wie wir in einer Moschee: Sie beten und wollen ein gottgefälliges Leben führen.“ Die Schüler sollen lernen, übernommene Urteile und Haltungen zu hinterfragen: „Unsere Aufgabe ist, den Stein des Nachdenkens ins Rollen zu bringen; ein Tor zu öffnen, um Informationen zu suchen, sodass sie sich selbst eine Meinung bilden können.“

Festzeiten wie vorösterliche Fastenzeit, Ramadan, Advent und Weihnachten: Können wir das gemeinsam feiern? Wie weit können wir gehen? Die Lehrer arbeiten eng zusammen. Aber am Anfang haben auch sie erst viel diskutieren und nach einem für alle gangbaren Weg suchen müssen. Schließlich haben die christlichen Kinder die Adventsfeiern vorbereitet, aber alle dazu eingeladen, erzählt Birgit Jöring: „Juden und Muslime müssen nicht innerlich teilnehmen. Bei Bekenntnisliedern wie ‚Oh du fröhliche’ sind die jüdischen Kinder angewiesen, nicht mitzusingen. Sie dürfen Beobachter sein.“ Hierfür hat das Lehrerkollegium die Formel ‚wahrnehmen, nicht teilnehmen‘ geprägt. Schnee- und Winterlieder werden eingebaut, bei denen jüdische und muslimische Kinder ohne Gewissenskonflikte mitsingen können. „Das jüdische Fest Chanukka, das acht Tage dauert, fällt immer in die Advents- oder Weihnachtszeit. So zünden wir jeden Tag sowohl den Adventskranz als auch auch den Chanukka-Leuchter an.“

Israel, Krieg in Syrien, der Vormarsch der IS im Irak: Verwandte sind betroffen, Kinder tragen, was sie mitbekommen, in den Schulalltag. „Einen Schüler hatten die gewaltsamen Auseinandersetzungen um den Gaza-Streifen sehr aufgewühlt“, berichtet Annett Abdel-Rahman. „Darauf gab er kund, wenn er groß sei, wolle er Soldat sein, nach Gaza gehen und kämpfen. Wir haben uns dann unterhalten, ob dass der richtige Weg ist. Der Junge kam darauf, dass es vielleicht besser wäre, mit den Menschen zu reden und sich ohne Waffen für den Frieden einzusetzen.“

Manche Eltern haben den Eindruck, dass ihre Kinder sich in Sachen Religion rasant entwickeln und ihnen gegenüber einen Wissensvorsprung haben. Abhilfe schaffen Elternabende, an denen Vertreter jeder Religion aus dem Lehrerkollegium zum Beispiel Praxis und Hintergründe religiöser Feste erläutern. Engagierte Eltern wollen jetzt selbst Besuche von Gotteshäusern organisieren.

Ein Kind hat Geburtstag und will aus diesem Anlass Schokolade verteilen. Damit alle Mitschüler sie essen können, schauen die Eltern vorher auf eine Liste für Kindergeburtstage, die die Schule auf ihrer Internetseite zusammengestellt hat. Das Leben miteinander in der Schule trainiert die Kinder, auf die Bedürfnisse der anderen zu achten, Andersartigkeit anzunehmen. „Das ist etwas, was wir sonst in der Gesellschaft vermissen, dass Menschen diesen Blick füreinander haben“, beklagt Annett Abdel-Rahman.

„Schule ist der einzig richtige Ansatz, mit dem Antisemitismus langfristig fertig zu werden“, ist Sebastian Hobrack überzeugt. „Gesetzesinitiativen, Diskussionsforen, wohlmeinende Reden und Gesten erreichen viele Leute nicht. Die Schule kommt aus dem Alltag, von der Graswurzel her: ein stiller, weicher, undramatischer Weg, der lange dauert, aber nachhaltig ist und Tiefgang hat.“ Der jüdische Lehrer würde sich mehr Initiativen wie die Drei-Religionen-Grundschule wünschen. „Wir können dafür gern unsere Erfahrung anbieten.“
Clemens Behr

www.drei-religionen-grundschule.de

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2015)
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