16. Januar 2019

Vom Land aus die Stadt beseelen

Von nst5

Sándor Tari hat ein Herz für die Menschen auf dem Land. Der ungarische Fokolar ist überzeugt: Sie haben der Stadt, ja der ganzen Nation viel zu geben. Mit dieser Vision knüpft er ein Netz von Beziehungen.

Die jungen Leute ziehen weg. Viele verlassen ihren Ort und gehen zum Studieren und Arbeiten in die Städte. Zu Hause sehen sie für ihre Zukunft keine Perspektive. „Viele Dörfer sind halbleer. Wie wird es erst in zehn, zwanzig Jahren sein? Ein Drama!“ Sándor Tari, 62, ist besorgt. Er ist selbst auf dem Land groß geworden; seine Eltern hatten einen Hof. Die Nähe zur Natur, zu den Tieren, das Wissen um die Pflanzen waren für ihn selbstverständlich. „Wir lebten gesund, ohne uns groß Gedanken darüber zu machen“, ist er überzeugt. Heute sei es kaum mehr möglich, als kleiner Landwirt über die Runden zu kommen. Irgendwo werden die Erzeugnisse immer billiger produziert – und daher nach Ungarn importiert. Wer noch mithalten kann, düngt kräftig, um möglichst viel aus der Erde herauszuholen – mit schädlichen Folgen für die Umwelt.

Sándor Tari. – Alle Fotos: (c) Gábor Papp

Vor allem aber hätten sich die Beziehungen geändert, bedauert Tari. In seiner Kindheit kannte jeder jeden. Man arbeitete zusammen, half sich, stand füreinander ein, hatte viele Bekanntschaften weit über den eigenen Ort hinaus. In den Städten gehe das verloren. Einsamkeit sei dort ein großes Problem. Oft kenne man die Mietparteien im eigenen Wohnhaus nicht. „Wird heute von Freundschaften gesprochen, sind oft Geschäftsbeziehungen gemeint“, sagt Tari. „Beide Seiten mögen zwar einen Nutzen davon haben, aber es geht nicht um den Menschen im anderen. Die Beziehung ist zweckorientiert, wird nicht um ihrer selbst willen gelebt.“
Als junger Mann bewirtschaftete Sándor Tari einen Bauernhof bei Szeged in Südungarn – mit eigenen Landmaschinen. Daneben arbeitete er an Plänen, die für einen Bauernsohn ungewöhnlich waren: „Ich wollte ein großes Haus für Waisenkinder bauen. Einmal ein paar eigene Kinder aufziehen schien mir zu wenig. Etwas in mir rief mich dazu, mich für andere einzusetzen. Alle hielten mich schon für verrückt.“
Ein Priester kam in sein Dorf und begann, sich mit jungen Leuten zu treffen. Sie lasen Abschnitte aus dem Evangelium; versuchten, in ihrem Alltag daraus zu leben; erzählten sich ihre Erlebnisse damit. Die Begegnungen fanden im Verborgenen statt. Es war die Zeit des Kommunismus, Ungarn gehörte zu den Staaten des Warschauer Paktes. „Zu dieser Gruppe wurde ich eingeladen“, erzählt Sándor Tari. „Später nahmen wir an einem Sommertreffen der Fokolar-Bewegung teil, zu der der Priester gehörte.“ Von der Atmosphäre in dem Kreis von Jugendlichen und vom Umgang der Teilnehmer des Sommertreffens miteinander fühlte er sich angezogen. Auch sie wollten sich für andere einsetzen, für Gott, für etwas Großes: Also waren sie genauso verrückt wie er! Ihnen war die Stelle in der Bibel wichtig, wo Jesus seinen Vater im Himmel bittet: „Alle sollen eins sein. Wie du in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.“ 1 Das faszinierte ihn. „Hier begann langsam ein neues Leben für mich.“ Bald meinte er, es sei das Beste für ihn, Priester zu werden. „Wohl war mir bei dem Gedanken aber nicht. Es kam mir vor wie ein Kleidungsstück, das ein paar Nummern zu groß für mich ist. Aber ich kannte nichts anderes. Zum Beispiel hatte ich unter dem Kommunismus nie einen Ordenschristen treffen können.“

Event im Freien in Újkígyós: den ländlichen Raum stark machen

Sándor Tari kam fortan öfter zu Treffen der Bewegung, lernte die Fokolar-Gemeinschaft in Budapest kennen, unternahm viel mit diesen Leuten. Schließlich hatte er den Eindruck, dass das seine Berufung sei: als Fokolar in einer Gemeinschaft zu leben, ohne zu heiraten, und sich für die Einheit unter den Menschen einzusetzen. „So ließ ich mit 30 Jahren alles hinter mir, Felder, Hof, Traktoren, packte alles, was ich brauchte, zusammen und zog nach Budapest.“
Fünfzehn Jahre mögen ins Land gegangen sein, bis er wieder den Kontakt mit Landwirten suchte, zusammen mit einem Freund aus der Fokolar-Bewegung, der in einem landwirtschaftlichen Verband tätig war. An viele Freundschaften von früher konnte er anknüpfen. Die beiden bekamen mit, wie sehr sich die Welt der Bauern durch die Globalisierung und den Klimawandel veränderte. Deren Sorgen ließen Sándor Tari und seinen Freund nicht kalt. Trug ein gemeinschaftliches Leben aus dem Wort Gottes, wie sie es kennengelernt hatten, nicht auch die Kraft in sich, den Alltag dieser Landwirte zu „heilen“, zu erneuern? In einfachen, anschaulichen Worten gaben die beiden den Freunden nach und nach ihre Erfahrungen weiter. Bald bildete sich eine Gruppe von Landwirten, die sich regelmäßig über ihre Sorgen und Nöte, Freuden und Fortschritte austauschten, gegenseitig unterstützten und ermutigten.

Podiumsgespräch im offenen Zelt

Konnten sie etwas tun, um die Beziehungen der Menschen untereinander und zur Natur zu verbessern? Es musste doch möglich sein, der Stadt, der Nation von der Erfahrung im ländlichen Raum heraus mehr Seele zu geben; den Menschen von heute die Werte neu nahezubringen, die früher selbstverständlich waren und den Zusammenhalt in der Gesellschaft, den Einklang mit der Schöpfung und die Sinnhaftigkeit im Leben gefördert hatten: Achtsamkeit gegenüber dem Leben, den Pflanzen und Tieren, Mitmenschlichkeit, Aufrichtigkeit, Genügsamkeit, Großherzigkeit. Sándor Tari und seine Freunde dachten genauso an religiöse Werte, wussten aber auch, wie schwer der Glaube und die Beziehung zu Gott zu vermitteln sind. Selbst traditionsorientierte Menschen sind mit religiösen Themen kaum mehr zu erreichen, erst recht nicht mit einem kirchlichen Jargon.
Der Traum der Landwirte traf sich mit dem Wunsch einer ökumenischen Gruppe von Pfarrern und Pastorinnen in Szeged, als Christen etwas für ihre Stadt zu tun. Szeged, nah an der Grenze zu Serbien und Rumänien, ist mit 160 000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Ungarns. Zusammen organisierten sie im September 2016 eine Veranstaltung unter dem Motto „Weiter, offener Platz für alle“, eine Art Festival in einem Park mit Vorlesungen, Podiumsgesprächen, Konzerten von Bands und Liedermachern, Spielen und Workshops für Kinder. Alle waren dazu eingeladen. „Wir wollten, dass alle Bevölkerungsgruppen der Stadt vertreten sind: Bauern, Arbeiter, Kulturschaffende, medizinische Berufe. Auch Polizei und Feuerwehr haben mitgemacht”, erzählt Sándor Tari. Für kirchliche wie auch für politische und zivile Gruppen wurde der Tag ein Erlebnis, das den Zusammenhalt stärkte. Ein erster Schritt.

Streichelzoo für Kinder

Das Beziehungsnetz war unterdessen auf etwa zwanzig Landwirte und zehn Bürgermeister angewachsen. Gemeinsam deckten sie fast halb Ungarn ab, so Tari: „Wir sagen immer: Mein Freund ist auch dein Freund – und umgekehrt.“ Für Ende September 2018 lud das Netzwerk erneut zu einem Event im Freien ein, diesmal in Újkígyós, einem Ort mit 5 000 Einwohnern im Südosten des Landes, hundert Kilometer von Szeged entfernt. Gedacht war es vor allem für die Menschen, die den ländlichen Raum stark machen wollen: Pflanzen- und Tierzüchter, Experten und Forscher der Agrarökonomie und der Ökologie sowie Kommunalpolitiker. In einem offenen Zelt wurden Podiumsgespräche geführt über Probleme und Herausforderungen, aber auch persönliche Lösungsansätze: wenig Theorie, viele Erfahrungen. Da ging es um Pilzkulturen für medizinische Zwecke, den Einfluss des Klimawandels auf den Kornanbau, ein bistumsweites Netz zur Entwicklung des ländlichen Raumes und die Beziehung zwischen Stadt und Land. Auch Pater Csaba Böjte aus Siebenbürgen in Rumänien, ein in Osteuropa sehr bekannter Franziskaner ungarischer Sprache, war gekommen. Seit 1992 hat er in mehreren osteuropäischen Ländern Heime für Kinder aus schwierigen familiären Verhältnissen aufgebaut. Mittlerweile begleitet sein Hilfswerk „Stiftung heiliger Franziskus“ dank vieler Ehrenamtlicher rund 2 500 Kinder in 82 Einrichtungen. Was er aus seinem Alltag mit diesen Mädchen und Jungen berichtete, rührte viele Zuhörer an.

Musiker, Chöre und Tanzgruppen: Volksfestcharakter

Musiker, Chöre und Tanzgruppen traten auf. An 27 Ständen präsentierten Kunsthandwerker und Landwirte ihre Produkte: Käse, Honig, Marmelade, Früchte, Süßwaren, Kosmetikartikel, kleine Möbelstücke aus Holz, handgewebte Teppiche. Sie verteilten kostenlos selbst zubereitete Gerichte wie Kesselgulasch. Es gab einen Streichelzoo für die kleineren und Pferde zum Reiten für die größeren Kinder, Kutschfahrten und Spielgelegenheiten. Viele Teilnehmer, auch aus den Nachbarländern Rumänien und Serbien, zeigten sich über die Großzügigkeit überrascht. „Wir hatten keine öffentlichen Zuschüsse, alles sind freiwillige Gaben“, erläuterte ein Mitveranstalter den Besuchern stolz und bezog sich dabei auch auf die eingesetzte Arbeitszeit und die aufgestellten Zelte, Stühle und Klapptische. „Das zeigt, dass sich hier alle als Geschwister sehen. Die Stärke auf den Dörfern sind eben die freundschaftlichen Beziehungen.“ Von diesem Umgangsstil können auch die Städter lernen, sind die Veranstalter überzeugt. Damit ließen sich viele Probleme angehen und die Lebensqualität verbessern.
Die Vielfalt der Angebote und die ungezwungene Atmosphäre sorgten für Volksfest-Charakter. Trotz eines unerwarteten Kälteeinbruchs kamen viele Leute: 500 Portionen gingen beim Mittagessen weg. Am Nachmittag wurde es allerdings so frostig, dass man in beheizbare Räumlichkeiten umziehen musste.
„Mich hat tief berührt, dass nicht über geistliche Themen gesprochen wurde, durch eure Beziehungen, eure Worte, euer Handeln aber letztlich alles ein geistliches Erlebnis war“, äußerte ein Tierarzt aus Serbien im Anschluss. Ihm schien, die Art und Weise, das Programm zu gestalten, habe die Teilnehmer erreicht. Denn Landwirte seien praxisorientiert und wollten keine schönen Reden hören. „Wir haben viele gute Leute kennengelernt und neue Freundschaften geschlossen.“
Eine neue Art der Evangelisierung sah ein Geistlicher aus Újkígyós in dem Event. Der Bürgermeister der Kommune meinte, die Ortsgemeinschaft sei neu beseelt worden. Er hatte die Auftritte lokaler Folkloregruppen ermöglicht.

An 27 Ständen präsentierten Kunsthandwerker und Landwirte ihre Produkte.

Die Jahre über, in denen Sándor Tari die Veranstaltungen mit seinem Netzwerk organisierte, hat ihn seine Fokolar-Gemeinschaft immer stark unterstützt. Er erklärt sich die Zufriedenheit der Teilnehmer mit der Gegenwart von Jesus, wenn Menschen in seinem Namen vereint sind: „Wir müssen nicht von ihm reden, damit er da ist. Er ist dann da, wenn wir in der gegenseitigen Liebe sind, von der er gesprochen hat. Er macht uns froh, gibt uns neue Hoffnung, zeigt uns Auswege aus dem Drama.“
Eine Gruppe von Personen aus seinem Beziehungsnetz habe sich gefunden, die sich besonders für die Stadt engagieren will, erzählt Sándor Tari. Als nächstes wollen er und seine Freunde eine wissenschaftliche Untersuchung voranbringen, um damit beim ungarischen Landwirtschaftsministerium vorzusprechen. Und sie denken schon an eine dritte Auflage ihrer Open-Air-Veranstaltung.
Clemens Behr

1 Johannes 17,21
> Um die Herausforderungen der Städte und Visionen für ihre Zukunft dreht sich der Kongress „Co-Governance – gegenseitige Verantwortung in Städten heute“ vom 17. bis 20. Januar 2019 in Castelgandolfo bei Rom. www.co-governance.org

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2019)
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