10. Mai 2009

Vera sucht Pinocchio

Von nst_xy

Psychologie des Lügens

Kriegt man nun kurze Beine oder eine lange Nase davon? Genau das möchte ein Lügner eigentlich vermeiden: eine Verunstaltung, die ihn in schlechtem Licht dastehen lässt.
Warum lügt jemand? Häufig ist es, um besser dazustehen, einen Fehler oder eine verbotene Handlung zuzudecken, um Kritik oder Strafe zu vermeiden (Notlüge). Gelogen wird aus Scham, Höflichkeit, um andere zu schützen (soziale Lüge) oder um Vorteile zu erlangen und die Pläne des Gegenübers zu vereiteln (gemeine beziehungsweise verbrecherische Lüge). Schließlich gibt es die zwanghafte, pathologische Lüge bei Sucht oder Narzissmus.
Kinder beginnen etwa vierjährig mit dem Lügen zu experimentieren und entdecken, dass sie eine alternative Realität zu der als wahr erkannten entwerfen können. Dieses „als-ob” ist eine wichtige psychische Funktion der intellektuellen Entwicklung und befähigt das Kind, aus der Symbiose mit den Eltern herauszutreten. Es bedeutet mehr Macht, aber auch Einsamkeit.
Achtung! Folgende Story könnte erlogen oder wahr sein: Vera musste nach häufigem Lügen im Büro erkennen, dass es zur Gewohnheit geworden war. Sie überlegte, in welchen Situationen sie zur Lüge griff: immer dann, wenn es um Unzulänglichkeiten ging – eigene oder fremde. Sie war verblüfft zu sehen, dass sie andere mittels ihrer Lüge schonen wollte. Das bedeutete ja, dass sie ihre Mitmenschen als ziemlich schwach einschätzte. Das konnte es nicht sein! Vera wagte das Experiment, nicht mehr zu lügen. Es war ein prächtiges Gefühl und entlastend, da sie sich keine Lügenkonstruktionen mehr merken musste. Kopf und Herz bescherten ihr plötzlich noch eine Entdeckung: In wie vielen Situationen hatte sie sich selbst belogen! Das hatte sie noch weniger gewusst. Unbequem,aber befreiend.
Dorothea Oberegelsbacher

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2009)
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