10. Mai 2009

Wohin steuert die EU?

Von nst_xy

Plädoyer für ein „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten”

Seit der Osterweiterung der Europäischen Union in den Jahren 2004 und 2007 zählt die EU 27 Mitgliedsstaaten. Weitere Staaten warten auf ihre Aufnahme. Wirtschaftlich stellt die EU heute einen Machtfaktor in der Welt dar. Der Euro konkurriert mit dem US-Dollar um das Prädikat „stabilste Währung der Welt”.
Demgegenüber lässt die politische Handlungsfähigkeit der EU zu wünschen übrig. Wichtige Entscheidungen müssen immer noch von den Staats- und Regierungschefs einstimmig getroffen werden. Im Vertrag von Nizza (11. Dezember 2000) beschlossen die Mitglieder, dass an die Stelle dieses Einstimmigkeitsprinzips in zahlreichen Angelegenheiten eine an der Einwohnerzahl orientierte qualifizierte Mehrheit treten sollte, aber die europäische Verfassung, die das regeln sollte, kam nicht zustande. Frankreich und die Niederlande lehnten sie in Volksabstimmungen ab.
Ein Grund war sicher, dass sich der Verfassungsentwurf den meisten Bürgern als ein nur schwer durchschaubares Werk darstellte. Hinzu kommt ein wachsendes Misstrauen der Bürger gegen die scheinbar ausufernde EU-Bürokratie. Beanstandet wird ferner eine weitgehende Aufweichung des Prinzips der Gewaltenteilung. Die Kommission, die eigentlich der ausführenden Regierungsgewalt (Exekutive) zuzurechnen ist, übt durch Richtlinien faktisch auch Gesetz gebende Funktionen (Legislative) aus, die eigentlich dem demokratisch gewählten Parlament zustünden.

Nach der Ablehnung der EU-Verfassung mussten die Mitglieder nach einer anderen Grundlage für den Staatenbund suchen. Am 13. Dezember 2007 vereinbarten sie den Vertrag von Lissabon. Dieser erscheint aber noch komplizierter und undurchsichtiger als die gescheiterte Verfassung.

Der Vertrag sollte am 1. Januar 2009 in Kraft treten. Da aber Irland in einer Volksabstimmung vom 12. Juni 2008 die Ratifizierung ablehnte, wurde das Inkrafttreten auf unbestimmte Zeit verschoben. Zunächst signalisierte der polnische Staatspräsident Kaczynski, er werde den parlamentarisch bereits ratifizierten Vertrag erst unterzeichnen, nachdem Irland zugestimmt hat. In Tschechien ist das Ratifizierungsverfahren im Parlament noch nicht abgeschlossen. Die dem Vertrag positiv gegenüber stehende tschechische Regierung wurde durch ein parlamentarisches Misstrauensvotum gestürzt, und Staatspräsident Klaus, ein Gegner des Vertrages, ist auf der Suche nach einem neuen Regierungschef. In Deutschland haben der Abgeordnete Peter Gauweiler (CSU) und die Linkspartei das Bundesverfassungsgericht angerufen, und Bundespräsident Horst Köhler hält seine Unterschrift unter das parlamentarisch bereits angenommene Vertragswerk noch zurück, bis das Gericht entschieden hat.
Ich meine, die EU hat mit den notwendigen Reformen zu lange gewartet. Ein Staatenbund aus 27 Staaten bleibt ohne klare Strukturen manövrierunfähig. Daran dürfte auch die Ratifizierung des Lissabonner Vertrages kaum etwas ändern.
Vor diesem Hintergrund sollte das Stichwort vom „Europa der zwei Geschwindigkeiten” wieder aufgegriffen werden. Eine Regelung des Lissabonner Vertrages lässt diese Möglichkeit auch ausdrücklich zu. Danach können einzelne EU-Staaten untereinander Regelungen vereinbaren, die von den übrigen Mitgliedsstaaten nicht übernommen werden müssen. Einer solchen Regelung verdankt die EU etwa die Einführung des Euro, die nicht von allen 27 Mitgliedern mitgetragen wird. Ein „Europa der zwei (oder mehr) Geschwindigkeiten” könnte darüber hinaus den Weg für eine gestaffelte Mitgliedschaft öffnen, wodurch dann auch die Lösung problematischer Fälle vereinfacht werden könnte, wie etwa die Aufnahme der Türkei.
Klaus Purkott

Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2009)
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