20. Oktober 2016

Die Wir-Frau

Von nst1

Offener Brief an Ulrike Reinhard, Netzwerkerin

Sehr geehrte Frau Reinhard,

das kleine Video in den sozialen Medien zieht mich in seinen Bann. „The Barefoot Skateborders“ erzählt von Kindern im indischen Ort Janwaar, die barfuß Skateboard fahren. Was ist daran so besonders?, denke ich zunächst. Der neue Skateboardpark in dem abgelegenen Ort ohne Strom und sanitäre Anlagen hat jedoch vieles umgekrempelt: Die Kinder zweier verschiedener Kasten, die bisher strikt getrennt lebten, spielen nun zusammen; Mädchen und Frauen, die in dieser Gesellschaft einen schweren Stand hatten, werden stärker wertgeschätzt und können sich freier und furchtloser bewegen; die Kinder besuchen die Schule regelmäßiger; der Alkoholkonsum der Männer ist gesunken – insgesamt ein verblüffender Mentalitätswandel! Dazu beigetragen haben simple Regeln im Skateboardpark wie „Mädchen zuerst“ und „ohne Schulbesuch kein Skaten“. Sie haben das bemerkenswerte Projekt angestoßen und seine Umsetzung begleitet!

Sie erwähnen, dass Sie von einem Projekt in Afghanistan mit einer Skateboard-Anlage viel gelernt haben: Verschleierte Mädchen und junge Frauen lernen dort Körperbeherrschung und tanken Selbstbewusstsein. Janwaar ist nicht ihr einziges Projekt! Sie haben Internetinitiativen ins Leben gerufen, die das positive Potential dieses Mediums fördern. Sie nutzen seine Dynamik als Netzwerk, das die Kreativität von Menschen über Länder- und Kulturgrenzen hinweg zusammenführt, um die Welt hier und da besser zu machen.

Wie Sie grundsätzlich an Aufgaben herangehen, finde ich sehr anregend: Sie hatten in Indien beobachtet, dass das gängige Bildungssystem oft nicht mit dem Alltag der ländlichen Bevölkerung zusammenpasst, die auf die Mitarbeit der Kinder angewiesen ist. In Workshops ziehen Sie daher die Bewohner in den Entstehungsprozess eines Projekts mit ein, reflektieren mit ihnen die Probleme und lassen sie selbst die Lösungen erarbeiten. Auch Entscheidungsträger, Experten, Behörden, Unternehmen binden Sie früh ein. Ihnen ist wichtig, dass die Beteiligten die Projekte als „ihre“ empfinden und dass sie – im Fall des Skateparks – mehr als nur Lernort, sondern Teil der Ortsgemeinschaft sind. Dazu passt das „WE“ (WIR) in Ihrem Logo.

Gemeinsam auf unkonventionelle Art Wege finden, die etwas zum Guten bewegen: Auch das Projekt we-magazine.net zeigt Ihre Ausrichtung. Gegen die zunehmende Ich-Bezogenheit setzen Sie bei allen Projekten auf die Wir-Qualitäten der Menschen und machen sie stark. Diesen Ansatz teilen wir als Zeitschrift und fühlen uns Ihrem Engagement daher sehr nahe. Sie führen Menschen zusammen, ermutigen Sie und ermöglichen ihnen, sich einzubringen, Mitverantwortung zu übernehmen, für das Wohl vieler zusammenzuarbeiten. Sie schaffen den Rahmen, in dem sich andere zusammenfinden, kreativ sein und sich ausdrücken können: ein bewundernswertes Talent! Wir freuen uns, dass Sie vielerorts damit wuchern.

Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr,
Redaktion NEUE STADT

Unser offener Brief wendet sich an Ulrike Reinhard, Netzwerkerin, Beraterin, Publizistin, Visionärin. Sie hat in Mannheim Betriebswirtschaft studiert und später als Beraterin gearbeitet. Schon früh war sie internetbegeistert; ihre erste E-Mail-Adresse ist von 1987. Ihre Überzeugung, dass das „Netz” einfache Leute stark machen und ihr Leben verbessern kann, ist ihre Triebfeder: als Erforscherin globaler Trends wie als Geburtshelferin von Selbsthilfe-Projekten in Indien.

www.ulrikereinhard.com
www.janwaar-castle.org

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Oktober 2016)
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