2. August 2024

Bei sich sein

Von nst5

Der Grazer Psychiater Michael Lehofer räumt gründlich auf mit der Überzeugung,

dass Selbstliebe sei Egoismus. Erst wer sich selbst lieben gelernt habe, sei auch beziehungsfähig.

Warum ist Selbstliebe so wichtig, Herr Professor Lehofer?
Um diese Frage beantworten zu können, müssten wir erst darüber sprechen, was Liebe ist, und warum sie so wichtig ist.

Ich bin gespannt.
Liebe ist das Empfinden der Verbundenheit. Sie ist deswegen so wichtig, weil sie die Vorstellung der Vollkommenheit in einer unvollkommenen Welt wachhält.

Was meint „Empfinden von Verbundenheit“?
Man könnte auch sagen: Die Liebe ist die Erfahrung der Geborgenheit. Wenn etwa ein Kind Angst hat, läuft es zur Mutter. Sie nimmt das Kind in den Arm, und es wird ruhiger, selbst wenn die Gefahr nach wie vor da ist. In diesem Moment wird Oxytocin ausgeschüttet, ein Neurohormon, dass uns hilft, den Stress zu regulieren. Es wird auch das Liebeshormon genannt.
Die Liebe ist Ruhe. Dass wir in einer Situation ruhig sein können, in der wir uns bedroht fühlen müssten, kann man auch als Beantwortung eines Beziehungsangebots Gottes sehen. Von Augustinus stammt der berühmte Satz: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht, o Gott, in dir.“

Sie sprachen von der Mutter und ihrem Kind …
… weil es wichtig ist, dass wir als Kind geliebt werden. Babys, die als Kind häufig Berührungen erlebt und deshalb viel Oxytocin verfügbar haben, tun sich als Erwachsene leichter, stabile Beziehungen zu führen und zu vertrauen. Sie haben das Liebesempfinden verinnerlicht und eine Grundhaltung der Liebe entwickelt, die sich quasi biopsychosozial ausformuliert. So können sie das, was ihnen zuteilgeworden ist, auch anderen schenken. Die Fürsorge etwa, die sie von ihrer Mutter bekommen haben, können sie dann auch anderen zeigen.

Zurück zur Selbstliebe.
Wenn ein Mensch sich geliebt weiß, ist er nicht mehr darauf angewiesen, dass alle ihn immer lieben. Ein solcher Mensch kann sich auf der Grundlage der Erfahrung, ein geliebter Mensch zu sein, selbst eine Grundausstattung an Liebe bescheren. Das ist Selbstliebe.
Selbstliebe hat nichts mit Selbstverwöhnung oder Selbstbewunderung zu tun. Selbstliebe ist die Fähigkeit, sich selbst nahe zu sein. Sie zeigt sich in der Fähigkeit zur Selbstberuhigung. Viele Menschen sind unruhig, wenn sie allein sind. In der Selbstliebe kann man aber Ruhe empfinden – auch, wenn man allein ist.

Wie wirkt sich die Selbstliebe auf die Beziehung zu anderen Menschen aus?
Ich gehe so weit zu sagen, dass uns erst die Selbstliebe beziehungsfähig macht. Wer immer von anderen geliebt werden muss, weil er sich selbst nicht lieben kann, überlastet die Umgebung. Das führt zu Beziehungsproblemen. Egal, ob in einer Partnerschaft, im Familienkreis, in einer Gemeinschaft oder unter Freunden: Man überlastet Beziehungen, wenn man sich selbst nicht lieben kann.

Trägt jeder Mensch die Selbstliebe von Natur aus in sich?
Leider nein. Nicht jeder Mensch ist gleich begabt zur Liebe. Gerade Menschen, die weniger begabt zur Liebe sind – und damit auch zur Selbstliebe –, sollten wir besonders lieben, auch wenn es schwerfällt. Denn natürlich lieben wir diejenigen leichter, die auch uns lieben. Aber diejenigen, von denen wir uns weniger geliebt fühlen, brauchen unsere Liebe am meisten. Dann haben auch sie die Chance, diese Begabung zu lernen. Da sind wir bei einer zutiefst christlichen Haltung.

Andere Menschen können also dazu beitragen, dass jemand lernt, sich selbst zu lieben?
Ja. Aber wenn ein Mensch gewohnt ist, nicht geliebt zu sein, dann wehrt er die Liebesangebote anderer oft ab oder empfindet sie gar als bedrohlich. Er beharrt auf der Überzeugung, nicht geliebt zu werden. Es wäre schön, wenn wir ihn trotzdem unbeirrt lieben könnten. Aber wir sollten nicht erwarten, dass er unsere Liebe annimmt. Der eine kann sie annehmen, der andere nicht. Das ist nicht in unserer Hand.

Woran liegt es, dass manche Menschen sich schwertun, Liebe anzunehmen?
Ein zugespitztes Beispiel: Wenn ein Kind von seinem Vater immer wieder abgewertet wurde, verinnerlicht es mit der Zeit die negative Haltung des Vaters ihm gegenüber. Würde es nämlich auf der Selbstliebe beharren, hätte es einen solch großen Konflikt mit dem Vater, dass es nicht mit ihm leben könnte. So entwickelt sich ein Selbsthass im Kind gleichsam als Identifikation mit dem Vater, von dem es abhängt. Wenn dieses Kind später als Erwachsener von seiner Frau und den Kindern geliebt wird, traut es sich nicht, Liebe anzunehmen; es ist so geprägt davon, dass der Selbsthass der einzige Weg zu überleben ist, dass er diesen Mechanismus beibehält, auch wenn er der aktuellen Lebenssituation nicht mehr angemessen ist.

Kann man da überhaupt herauskommen?
Diese Frage sprengt den Rahmen dessen, was ein Interview leisten kann. Vereinfacht gesagt: Ja, es ist möglich, aber es wird nicht immer gelingen.

Was kann dabei helfen?
Letztlich nur die Erfahrung der Liebe von außen. Es ist von unschätzbarem Wert, wenn ein Mensch jemanden hat, der einen an die Hand nimmt – egal, was passiert. Das senkt die Angst und ermöglicht uns, Veränderungen anzugehen. Dann aber muss der Moment kommen, in dem dieser Mensch erkennt, wie verrückt es ist, dem Gefühl nachzugeben, sich der Liebe verschließen zu müssen. Gefühle sind keine Befehle. Sie sind nur Hinweise, die helfen können, eine Situation zu beurteilen. Leider erleben viele Menschen die eigenen Gefühle als Imperative. Sie meinen, sich etwas Gutes zu tun, wenn sie ihnen bedingungslos folgen. Das Gegenteil ist der Fall.

Es geht also um eine persönliche Reifung.
Ja. Persönliche Reifung geschieht, wenn wir positiv mit Krisen umgehen. Krisen sind Situationen, in denen wir nicht mehr weiterwissen. Wir glauben, dass wir nicht weiterleben können ohne etwas, das uns gerade verloren geht. Eine Krise zu bewältigen, heißt zu lernen, dass das, was uns unverzichtbar schien, doch verzichtbar ist. Wer mehrere Lebenskrisen bewältigt hat, erfährt eine Freiheit, die von Bedingungen unabhängig ist, und entwickelt zugleich eine große Liebesfähigkeit. Solche Menschen sind oft heiter und gelassen, aber auch auffällig warmherzig und gütig.

Das klingt ermutigend.
Das geht manchmal so weit, dass Menschen, die existenzielle Krisen bewältigt haben, einen tiefen Ewigkeitsglauben entwickeln. Angesichts der Erfahrung, dass sie schon einige Male das vermeintlich Unverzichtbare überlebt haben, können sie sich gar nicht vorstellen, dass sie wirklich tot sind, wenn sie einmal sterben. Ich meine, dass die Auferstehung von den Toten an Glaubhaftigkeit gewinnt, wenn wir sie schon im Leben erfahren und nicht erst nach dem Leben.

Ist es harte Arbeit, die Selbstliebe zu lernen?
Arbeit ist der falsche Ausdruck. Arbeit hat einen Anfang und ein Ende. Der Weg zur Selbstliebe wird uns das ganze Leben lang beschäftigen. Ich habe an mir selbst beobachtet, dass ich manchmal in meinen Vorträgen Dinge sage, die ich in meinem eigenen Leben nicht gleich umsetzen kann. Doch sie sind deswegen nicht weniger wahr. Ich muss sie mir selbst über viele Jahre hinweg immer wieder erzählen, und irgendwann merke ich dann: Ich habe sie verinnerlicht.
Die Weisheit muss in uns einsickern können. Man kann sie sich nicht erarbeiten oder erlernen. Sie muss einsickern. Wesentlich dabei ist, eine unverbrüchliche Sehnsucht nach Weisheit zu haben. Das verlangt, sein eigenes Ego nicht zu wichtig zu nehmen. Sonst kann die Weisheit nicht einsickern, denn das Ego ist ja davon überzeugt, die Weisheit für sich gepachtet zu haben, also nichts mehr lernen zu müssen.

Was unterscheidet Menschen mit Selbstliebe von selbstverliebten Menschen?
Selbstverliebte Menschen sind nicht selbstliebend. Sie finden die Liebe nicht in sich selbst, und so müssen sie verzweifelt alle anderen dazu zwingen, sie zu lieben. Daher ist der narzisstische Mensch eigentlich ein verzweifelter Mensch. Er hat zu wenig Selbstliebe in sich, obwohl es genau umgekehrt ausschaut.

Christen setzen die Selbstliebe häufig mit Egoismus gleich. Hat das Christentum den Wert der Selbstliebe erst entdecken müssen?
Ich bin ein großer Anhänger des Christentums, weil Jesus Christus eine Liebesreligion gepredigt hat. Er hat uns die Möglichkeit eröffnet, in eine liebevolle Beziehung zu unserem Vater einzutreten. Und er hat uns gezeigt, dass wir das Glück in der Hingabe finden, die dann möglich ist, wenn wir uns selbst lieben gelernt haben.
Aber das Christentum hat leider immer wieder die schwere Verwundung des Klerikalismus erlitten. Bis heute.

Das müssen Sie erklären.
Darf ich dazu noch einmal Augustinus zitieren? „Siehe, du warst in meinem Innern, und ich war draußen und suchte dich dort.“ Wir können Gottes Liebe in uns finden und Gott in uns lieben. Die Selbstliebe stärkt auch unsere Beziehungsfähigkeit zu Gott hin.
Dann aber passiert es oft, dass sich andere Menschen in diese Beziehung hineindrängen und sagen: „Wir können das besser! Zahle uns ein wenig, dann machen wir das für dich, und es gibt bessere Ergebnisse.“ Ein Mensch, der sich selbst lieben gelernt hat und daraus die Kraft zur Hingabe findet, ist eine Bedrohung für den Klerikalismus. Menschen, die daran verdienen, dass sie sich zwischen Gott und die Menschen stellen – finanziell oder durch Machtgewinn – sagen dann, es sei schuldhaft, wenn man sich selbst liebt.

Woran kann ein Mensch erkennen, dass es passt mit der Selbstliebe?
Ein gutes Anzeichen dafür ist, wenn jemand sagen kann: „Ich kann es einmal gut sein lassen mit mir selbst.“ oder „Ich kann mich selbst in Ruhe lassen.“ Wie wenige Menschen können das! Sich selbst in Ruhe lassen.
Liebe ist etwas sehr Einfaches. Wenn die Liebe nicht einfach ist, ist sie nicht. Das gilt auch für die Beziehung zu mir selbst. Wenn die Beziehung zu mir leicht ist, dann liebe ich mich

Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Peter Forst

Michael Lehofer. – Foto: (c) Dietrich Lampel

Michael Lehofer,
Jahrgang 1956, ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, klinischer Psychologe und Psychotherapeut. Seit 2008 ist er ärztlicher Direktor am Landeskrankenhaus Graz II und Leiter der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie. Er ist Autor erfolgreicher Bücher zu Themen wie Selbstliebe und Alter. Mit dem Innsbrucker Bischof Hermann Glettler hat er zwei Bücher veröffentlicht – eines zum Thema Trost und eines über den „unbequemen Jesus“.





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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Juli/August 2024.
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