2. August 2024

Dir einen Gefallen tun

Von nst5

Michael Berentzen

Foto: privat

war bis 2021 Hochschulpfarrer an der Studierendengemeinde in Münster. Aktuell lebt er in Rom und arbeitet an seiner Doktorarbeit zum Thema Synodalität.


„Kannst du mir einen Gefallen tun?“ Immer, sofort und mit Freude, denke ich. „Klar, um was geht’s?“, höre ich mich also sagen. Sempre, subito e con gioia – das ist eines der von Chiara Lubich geprägten Worte, die mir im Alltag häufig in den Sinn kommen. Nicht, dass es mir immer gelänge, sofort oder gar mit Freude zu reagieren, wenn ich spüre, dass meine Person gefragt ist. Aber der Satz schwirrt in meinem Kopf herum und manchmal gibt er den entscheidenden Ausschlag, meinen Nächsten zu lieben, bisweilen sogar mit einem Lächeln.
Die meisten Menschen tragen Worte und (Glaubens-)Sätze in sich, die sich seit der Kindheit ansammeln und die ihr Denken, Empfinden und Tun bestimmen. Für viele gehören dazu Worte aus der Bibel oder von Vorbildern im Glauben. Einige davon haben wir sehr bewusst in diese Sammlung hineingelegt, darauf hoffend, dass sie uns von innen her formen. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, ist vielleicht das bekannteste Wort der Bibel. Es lebt nicht nur in vielen Christinnen und Christen weiter, sondern hat sich in das kollektive Weltgedächtnis eingeschrieben. So klingt es befremdlich, wenn wir die Reihenfolge tauschen: Du sollst dich selbst lieben wie deinen Nächsten. Immerhin sprechen wir vom Gebot der Nächstenliebe und die inhaltliche Ausrichtung ist klar: Das Wort will helfen, uns in eine Haltung der Hingabe hineinzuleben, wie Jesus sie bis in die letzte Konsequenz hinein verkörpert.
Zugleich kommen mir viele Momente der Seelsorge in den Sinn, in denen ich gespürt habe, dass hier eine andere Botschaft gefragt ist. Es kann etwas Befreiendes haben, dem Gedanken nachzugehen, was es verändern würde, wenn die Person genauso barmherzig, großzügig und liebevoll mit sich selbst umgehen würde, wie sie in vielen Momenten mit anderen umgeht. Seelsorge ist dann Erlaubnisarbeit: „Darf ich wütend sein, wenn ich doch Jesus nachfolge? Darf es mir schwerfallen zu vergeben? Darf ich mich mal zurückziehen, obwohl meine pflegebedürftige Frau oder meine Freundin mit Liebeskummer gerade nicht alleine sein will und mich braucht?“ – „Du darfst.“
Eines schwingt doch auf jeden Fall im Gebot der Nächstenliebe mit: Nämlich, dass sie nicht im Gegensatz zur Selbstliebe steht. Angst, dass das Wort der Nächstenliebe in mir überlagert wird, ist meistens fehl am Platz. Es geht darum, ihm andere Worte zur Seite zu stellen. Eine Regel von Ignatius von Loyola mag helfen. Sie regt an, vor allem auf die biblischen Worte zu schauen, die gegen meine Prägungen und Gewohnheiten sprechen, sozusagen mit Jesus gegenzusteuern. Er nennt diese Haltung das agere contra. Dann kann die Nächstenliebe mich herausfordern, wo ich um mich selbst kreise, und die Selbstliebe, wo ich mich aus dem Blick verliere.
Für diese Zeilen habe ich erstmals nachgeforscht, woher das Wort von Chiara Lubich stammt. Sie hat es 1980 in Rocca di Papa vor Jugendlichen als Motto ausgerufen. Und zwar als Ermutigung, gemeinsam Jesus am Kreuz, also Jesus den Verlassenen, ohne Zögern zu lieben. Das Angesicht von Jesus, der am Kreuz nach Liebe schreit, kann sich auch in uns selbst zeigen. Und so darf uns die Frage in den Sinn kommen: „Kann ich mir einen Gefallen tun?“ Und die Antwort darf lauten: „Klar! Immer, sofort und mit Freude.“


Hat Ihnen der Artikel gefallen? Möchten Sie mehr von uns lesen? Dann können Sie hier das Magazin NEUE STADT abonnieren oder ein kostenloses Probe-Heft anfordern.
Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Juli/August 2024.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München
Ihre Meinung interressiert uns! Schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt.