8. April 2025

Persönlich und wechselseitig

Von nst5

Welche Form der geistlichen Begleitung brauchen Menschen,

die auf einem gemeinschaftlichen Glaubensweg unterwegs sind? Beobachtungen und Impulse.

Wachsen und reifen. Das ist ein lebenslanger Prozess. Er betrifft alle Bereiche menschlichen Lebens. Sich diesem Prozess zu stellen, kann manchmal ganz schön herausfordernd sein. Wer sich persönlich oder beruflich weiterentwickeln will, tut in vielen Fällen deshalb gut daran, sich Unterstützung zu suchen – sei es von Freunden, Kollegen oder professionell geschulten „Coaches“.
Auch geistliches Leben unterliegt einem solchen Wachstums- und Reifungsprozess. Auch wer mit Gott unterwegs sein möchte, kommt in Situationen, in denen er oder sie nicht weiterweiß. Exerzitien im Alltag, Auszeiten für die Seele, geistliche Begleitung – all das kann eine Möglichkeit sein, Anregungen und Unterstützung zu finden.
Einander auf dem Glaubensweg zu begleiten ist nicht neu. Selbst die Einsiedler der frühen Kirche hatten „Seelenführer“ und gaben ihrerseits vielen Menschen Rat. Die Formen der Begleitung haben sich gewandelt.
Heutige geistliche Begleitung verdankt wichtige Impulse Ignatius von Loyola (1491-1556). In seiner Begleitpraxis und seinem Exerzitienbuch rückte er die unverwechselbare Glaubenserfahrung des Einzelnen ins Blickfeld. So sehen sich bis heute Geistliche Begleiterinnen und Begleiter als Geburtshelfer: Sie fördern den Dialog der Personen mit Gott, nehmen sich selbst aber zurück.

EIN GANZES DORF
Heute sind wir mehr denn je aufeinander angewiesen. So betont ein afrikanisches Sprichwort: „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ Im religiösen Leben zeigt sich das auch darin, dass geistliche Aufbrüche zunehmend auf die Beziehungsfähigkeit und -not der Menschen antworten.
Wie verbindet sich das Persönliche mit dem Gemeinschaftlichen? Eine Frage, die auch die Fokolar-Bewegung in ihrer Nachgründerzeit bewegt. Und wie sieht dann geistliche Begleitung aus?
Die Spiritualität der Einheit hat einen typischen Ansatz: In ihr begegnen wir Gott nicht allein in unserem Innersten; der Königsweg zur Einheit mit ihm ist die Liebe zum Mitmenschen. Jesus wirkt „in unserer Mitte“ (vgl. Matthäus 18,20), wenn wir einander Leben-gebend lieben (vgl. Johannes 15,12). Er ist dann wie ein Lautsprecher der inneren Stimme. Folglich suchen wir seine Gegenwart und besprechen dann gerne unsere Fragen mit unseren Mit-Glaubenden. So reifen wir im Austausch mit anderen. Wir gehen nicht alleine auf Gott zu, sondern miteinander.
Viele Fokolar-Gruppen üben sich zudem in gemeinschaftlichen Begleitmethoden. Diese sind etwa ein „Pakt“, die einander zugesagte Bereitschaft zur gegenseitigen Liebe; der Austausch von Erfahrungen mit dem gelebten Wort Gottes und dem geistlichen Leben; Zweiergespräche mit erfahrenen Personen oder Leitern sowie moderierte Momente gegenseitiger Stärkung und Korrektur.

Illustration: (c) GraphicMarine (iStock)

Das weitet das Verständnis von geistlicher Begleitung: Hier begleitet nicht eine Einzelperson eine andere; hier begleitet eine Gemeinschaft, und ihre Mitglieder begleiten sich gegenseitig. Wie das Kind im afrikanischen Dorf, so bereichern unterschiedliche Sichtweisen einander. Eigen- und Fremdperspektive wechseln sich ab. Diese Begleitung berührt viele Aspekte des Lebens, nicht bloß die geistlichen. Wir begleiten nicht nur in geplanten Gesprächen, sondern spontan in der Normalität des Alltags.
Im Idealfall wird damit Jesus in der Mitte einer Gruppe zum eigentlichen Begleiter. Aber automatisch ist das nicht. Voraussetzung ist, dass dort eine Atmosphäre der Familie herrscht. Und dass sie einen geschützten Raum bietet, wo alle möglichst angstfrei über ihr inneres Leben sprechen können; im Idealfall wird das auch durch das Versprechen gegenseitiger Liebe im Pakt garantiert. Eine solche Gemeinschaft denkt immer wieder über die Qualität ihrer Beziehungen nach. Sie lässt sich als Gemeinschaft selbst begleiten, ermutigen und korrigieren.

BEGLEITENDE GEMEINSCHAFT
Wie kommt es, dass trotzdem manchmal Mitglieder der Fokolar-Bewegung „verkümmern“ oder verbittern? Liegt die Ursache immer nur bei ihnen selbst?
Ich beobachte, dass es eine Gemeinschaft überfordern kann, wenn ein Mitglied schwere Krisen durchlebt. Oder sie versagt selbst als Begleiterin, wenn sie nicht die Bedingungen für angstfreien Austausch schafft. Wenn nicht jeder Einzelne eine tragfähige Gottesbeziehung pflegt, kann er leicht von der Gruppe „aufgesogen” werden.
Eine Ursache ist zudem die Bündelung von Macht. Das passiert, wenn Zuständigkeiten vermengt werden, etwa der Bereich der Leitung mit dem der Begleitung – in der Kirchensprache: „forum externum“ und „forum internum“. Papst Franziskus hat 2021 vor der Generalversammlung der Fokolar-Bewegung klargestellt: Wer eine Krise durchläuft, müsse von Personen begleitet werden, die „in … der Bewegung keine Leitungsfunktionen ausüben.“ Es sei „unverzichtbar“, zwischen forum externum und forum internum zu unterscheiden, um „Machtmissbrauch und anderen Formen von Missbrauch“ vorzubeugen.
Geistliche Einzelbegleitung ist also in bestimmten Lebensphasen auch auf einem gemeinschaftlichen Glaubensweg unerlässlich. Lange hielten viele in der Fokolar-Bewegung das für unnötig oder gar hinderlich. Dabei hat sich die Gründerin Chiara Lubich selbst begleiten lassen und dies gelegentlich auch empfohlen.
Wichtig dabei: Jede Person kann frei entscheiden, ob und durch wen sie sich begleiten lässt. Geschulte und kirchlich beauftragte Geistliche Begleiter können Verschwiegenheit im forum internum garantieren. Sie sind mit schwierigen Fragen des Lebens vertraut und können individuelle Glaubensgeschichten besser berücksichtigen. Das Gespräch mit ihnen kann schädliche Verengungen, Gruppendynamiken und Abhängigkeiten aufbrechen und neue geistliche Pisten aufzeigen. Das alles stärkt die spirituelle Autonomie der Begleiteten. Dadurch werden sie wieder fähiger zu einem gelasseneren Gemeinschaftsleben.
Auf einem gemeinschaftlichen Weg wird also im Idealfall jede Person auf drei Weisen begleitet: spontan und informell im Alltag geschwisterlicher Beziehungen; im Einzelgespräch mit einem kompetenten Geistlichen Begleiter; und durch das wechselseitige liebevolle Feedback in einer begleitenden Gemeinschaft. Diese drei Weisen befruchten einander, wenn sie zusammenspielen und ihre jeweiligen Gesetzmäßigkeiten respektiert werden.
In der gemeinschaftlichen Spiritualität kann so jede Person ganzheitlich begleitet werden: gemeinschaftlich und persönlich, multi-perspektivisch und wechselseitig. Es wäre im Idealfall Jesus in der Mitte, der sie nachhaltig inspiriert und heilt; der ihrem Leben so die von ihm zugesagte „Fülle“ (vgl. Johannes 10,10) gibt: ein Mehr an Glauben, Hoffnung, Liebesfähigkeit, Selbstbestimmung, Sinn und Richtung, gelungenen Beziehungen und heilsamer Gemeinschaft. Wachstum und Reifung.
Ernst Ulz

Ernst Ulz
lebt seit 1998 in einer Fokolargemeinschaft, nach 15 Jahren in Ostafrika derzeit in Wien. In den letzten Jahren hat sich der Theologe intensiv mit Geistlicher Begleitung beschäftigt.


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, März/April 2025.
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