Seid willkommen!
Wir empfinden Angst, Wut und Trauer,
aber müssen uns nicht davon bestimmen lassen. Wie mit ihnen umgehen, damit sie weder uns noch anderen schaden?
Wut und Hass – Gefühle, die wir in der Öffentlichkeit ungefiltert ausgelebt sehen: im Wahlkampf, in politischen Debatten, auf Demonstrationen, in den Fußballstadien, den Sozialen Medien, im Verkehr, an der Supermarktkasse. Dabei gehören sie zu den „negativen“, den unangenehmen Gefühlen, die viele Menschen am liebsten verstecken, so wie Angst, Eifersucht, Neid, Scham, Schmerz, Trauer. Hinter der nach außen gezeigten Aggression und Rücksichtslosigkeit können andere, verborgene Gefühle stecken: Hilflosigkeit angesichts der komplizierten Zusammenhänge weltweiter Probleme. Angst, zu kurz zu kommen. Neid, dass es anderen besser geht. Trauer darüber, Sicherheiten, Liebgewonnenes oder Gewohntes verloren zu haben.
Unangenehme Gefühle auf die Straße zu tragen und an Gegenständen oder Menschen auszulassen, kann Ausdruck einer Überforderung sein: Über unterschiedliche Kanäle prasseln viele Nachrichten auf uns ein. Aber wir können sie nicht verarbeiten, nicht darauf reagieren, fühlen uns ohnmächtig. Ein Gemenge aus negativen Gefühlen braut sich zusammen, bleibt aber unbewusst, entzündet sich bei bestimmten Anlässen und sucht sich ein Ventil. Die Polarisierungen, Spaltungen und Ausgrenzungen, die wir in unserer Gesellschaft erleben, hängen eng damit zusammen.
Unbequeme Gefühle können uns blockieren, unsere Entscheidungsfähigkeit einschränken, uns Dinge tun lassen, die Schaden anrichten und die wir später bereuen. Wir spüren ihre Auswirkungen körperlich: Verspannungen, Kopf- und Bauchschmerzen können mit negativen Gefühlen einhergehen oder ihre Folge sein. Sind diese Gefühle stark, häufig, lange andauernd, können sie der Gesundheit schaden. Daher ist es sinnvoll, sich der unbequemen Gefühle bewusstzuwerden und zu lernen, in der jeweiligen Situation angemessen mit ihnen umzugehen.

Dazu können unterschiedliche Hilfsmittel dienen. Mindfulness- oder Achtsamkeitsansätze wollen Personen darin unterstützen, sich ihrer Umwelt und der eigenen Gemütsregungen und körperlichen Verfasstheit im gegenwärtigen Augenblick bewusst zu werden. Und zwar, ohne Erinnerungen, herumwandernden Gedanken und starken Emotionen anzuhängen, sich von ihnen ablenken zu lassen oder sie zu bewerten. Die von Marshall Rosenberg entwickelte Gewaltfreie Kommunikation ist darauf ausgerichtet, die Menschen wertzuschätzen und Einfühlungsvermögen, Vertrauen, Zusammenarbeit und Kreativität in den Beziehungen zu verbessern. Sie nimmt die Bedürfnisse in den Blick und kann zu einem friedfertigen Umgang mit Konflikten verhelfen. Die Bindungs- oder Bedürfnisorientierte Erziehung achtet auf die natürlichen Grundbedürfnisse von Babys und Kindern. Dazu gehören Sicherheit, Zuwendung und körperliche Nähe. Der Erziehungsstil geht davon aus: Wird in der frühkindlichen Phase eine starke Bindung an die Eltern erreicht, können sich Urvertrauen, Selbstvertrauen, Beziehungsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit entwickeln. Auch in der Trotzphase bleiben die Erziehungspersonen zugewandt und verständnisvoll, aber klar. Das beinhaltet, das sie das Kind in Entscheidungsprozesse einbinden, ihre Liebe nicht an Bedingungen knüpfen, die Kinder nicht anlügen oder manipulieren, um ihre Ziele zu erreichen und sie bei missliebigem Verhalten nicht bestrafen oder beschämen.
Damit diese Hilfsmittel wirken, ist die Bereitschaft nötig, sich mit der eigenen Prägung und Geschichte auseinanderzusetzen. Auf den folgenden Seiten wird deutlich, dass Gefühle eine Aufgabe, einen Zweck haben. Sie sind eine unmittelbare Reaktion auf das, was gerade passiert.
Manchmal zeigen wir unsere wahren Gefühle nicht – aus Angst, uns verletzbar zu machen und abgelehnt zu werden. Wir haben gelernt, Gefühle zu unterdrücken, die in unserer Gesellschaft tabu sind oder bei unseren Bezugspersonen unerwünscht waren. Manchmal hingegen brechen sie einfach aus uns heraus; etwa, wenn eine unangenehme Situation eine ähnliche mit ganz anderen Personen aus der Kindheit wachruft und wir unbewusst die Zusammenhänge von damals ins Jetzt übertragen. So merken wir gar nicht, dass unsere heftige Reaktion in der aktuellen Situation unangemessen ist und den mitbetroffen Personen nicht gerecht wird.
Wie können wir mit den „negativen“ Gefühlen umgehen? Ein erster Schritt ist, dass wir uns ihrer bewusst werden, sie zulassen, Ja dazu sagen. Es hilft, ein Gefühl in Worte zu fassen. Wie und wo spüren wir es: Bereitet es uns Kopf- oder Bauchschmerzen? Haben wir einen Kloß im Hals? Wo sind wir verspannt? Das Gefühl zu benennen und seiner körperlichen Wirkung nachzugehen hilft, Abstand zu gewinnen und ihm seine Macht zu nehmen – also nicht in übermäßiges Grübeln zu verfallen oder sich hineinzusteigern. Dem Gefühl einen Namen geben und es bejahen, erinnert an eine Praxis der 2008 verstorbenen Gründerin der Fokolar-Bewegung, Chiara Lubich. Als Christin verband sie jede schmerzliche Lage mit Jesus, der am Kreuz unter körperlichen Schmerzen und dem Eindruck litt, von Gott-Vater verlassen zu sein. Sie versuchte, dem Schmerz einen Namen zu geben und in ihm das Antlitz des verlassenen Jesus zu entdecken.
Für eine Weile Abstand nehmen, ist ein weiterer Tipp. Steigt in einer hitzigen Debatte Ärger oder Wut in mir auf, kann ich sagen, dass ich nicht mehr klar denken kann, eine Pause brauche und für fünf Minuten den Raum verlassen möchte. Was tut mir jetzt gut? Sich diese Frage zu stellen und Zeit für sich zu nehmen kann helfen, sich wieder besser zu fühlen, um dann dem Auslöser des Gefühls nachzugehen.
Unbequeme Gefühle können helfen, uns mit unseren Bedürfnissen besser kennenzulernen. Wir brauchen uns nicht von ihnen bestimmen zu lassen. Vielmehr können wir mit ihnen so umgehen, dass sie weder uns noch anderen schaden. Werden sie nicht zerstörerisch ausgelebt, ist das auch ein Beitrag zum gesellschaftlichen Frieden. Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie, sagte sinngemäß: Wir haben Gefühle, aber wir sind sie nicht.
Clemens Behr
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, März/April 2025.
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