17. November 2016

Niemand fühlte sich zuständig!

Von nst1

Erfahrungsberichte: Leben nach dem Wort 

Niemand fühlte sich zuständig!

Ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung hatte mich wegen einer nigerianischen Flüchtlingsfrau angerufen, die schon kurz vor ihrem Entbindungstermin stand. Mit vielen Telefonaten hatte ich es dann gerade noch geschafft, den älteren Sohn rechtzeitig vor der Geburt in die Betreuung des Jugendamtes zu bringen.

Nach der Geburt eines prächtigen Jungen und einem Tag Erholung war es dann sehr schwierig, die junge Mutter mit ihrem Neugeborenen nach „Hause“ – ins Flüchtlingsheim – zurückzubringen. Taxischeine gab es nach Auskunft der zuständigen Stellen in diesem Fall nicht; im Bus mit Säugling und Tasche, aber ohne Kinderwagen, ging nun aber meiner Meinung nach auch nicht. Niemand fühlte sich zuständig! So habe ich dann in einem weiteren Telefonat mit dem Jugendamt den Vorschlag gemacht, dass ich die Frau mit dem Kind nach Hause bringen würde, wenn Mitarbeiter der Behörde inzwischen den „großen“ sechsjährigen Sohn wieder ins Wohnheim bringen würden. Schweigen. Dann die verblüffte Rückfrage: „Wie? Sie holen die Frau ab?“ – „Na ja. Was würden Sie sich denn wünschen, wenn Sie gerade in einem fremden Land ein Kind geboren hätten, zum wiederholten Male die Unterkunft wechseln mussten und Ihr anderes Kind in unbekannte Obhut hatten geben müssen?“, war meine Gegenfrage. „Dass mir jemand hilft!“, kam sofort die Antwort. „Sehen Sie, und das tue ich.“

Die Mitarbeiterin der Stadtverwaltung hat es dann so organisiert, dass am gleichen Nachmittag der ältere Sohn wieder in die Flüchtlingsunterkunft gebracht wurde. Ich hätte vor Glück platzen können!
P.B.

„Meinst du wirklich?“

Als Praktikant arbeite ich mit einem älteren Kollegen und einer älteren Kollegin zusammen. Die beiden arbeiten schon lange zusammen, haben aber nicht das beste Verhältnis zueinander. Oft gibt es Spannungen, die dann alle anderen auch spüren. Ich versuche, mit beiden eine gute Beziehung zu halten und mich nicht auf die eine oder andere Seite zu stellen und, obwohl der Altersunterschied zwischen uns groß ist, ganz „geschwisterlich“ mit ihnen umzugehen, so wie echte Brüder und Schwestern, die alle einen gemeinsamen Vater haben.

Wir sind beziehungsweise waren alle drei Raucher. Aber der Ältere hat sich das Rauchen abgewöhnt. Trotzdem hatte er in seinem Schubfach immer noch eine Reserveschachtel Zigaretten. Diese wollte er mir dann eines Tages schenken. Mir kam spontan, ihm vorzuschlagen: „Vielleicht schenkst du sie lieber der Kollegin. Sie wird sich sicher darüber freuen.“ Er fragte darauf unsicher zurück: „Meinst du wirklich?“ Ich machte ihm Mut: „Ganz bestimmt!“

Nach einer Stunde kam er zurück und berichtete mir ganz erstaunt: „Sie hat sich wirklich gefreut. Wir arbeiten schon 30 Jahre zusammen, aber ich habe ihr noch nie etwas geschenkt.“
L.W.

Der Groll war verflogen.

Kürzlich hat mich ein etwa gleichaltriger Mann, der wie ich im Fitnesscenter trainiert, ziemlich heftig zurechtgewiesen. Er warf mir vor, ich sei selbstherrlich, fast diktatorisch, rede von oben herab und kenne seine gesundheitliche Situation nicht. Was ich ihm gesagt oder geraten habe, sei nicht meine Aufgabe, sondern diejenige der Trainer dort im Fitnesscenter. Der Vorwurf kam für mich aus heiterem Himmel und der Herr nahm keine Rücksicht darauf, dass viele andere, die auch dort trainierten, zuhörten. Bei allem war ich mir keiner Schuld bewusst! Dann erinnerte ich mich schwach, mit dem Mann einige Tage vorher gesprochen zu haben.

Trotz meiner Betroffenheit habe ich daraufhin bei ihm für alle – unabsichtlich – zugefügten Wunden um Verzeihung gebeten. Er hat das auch akzeptiert. Ich selber fügte dann noch hinzu, ich wolle daraus lernen. Der Mann fand das gut und fügte noch hinzu: „Sie reden zu viel.“ Auch das habe ich erst mal einfach stehen lassen.

Die folgenden Besuche im Fitnesscenter habe ich dann allerdings so eingerichtet, dass ich jenem Mann nicht sofort wieder begegnen würde. Zweimal hat das auch geklappt. Inzwischen habe ich ihn vor einigen Tagen rein zufällig an unserer Straßenbahnhaltestelle gesehen. Ich grüßte ihn kurz, er selber grüßte zurück und hob sogar seine Hand. Eine kurze Strecke fuhren wir im selben Bus, er hinten, ich in der Mitte. Bei meinem Aussteigen grüßte ich ihn nochmals mit der Hand und sagte „Adieu“ zu ihm.

Ich merkte, dass ich immer noch unsicher war, wie ich ihm begegnen sollte. Aber ich versuchte mich am  Wort des Lebens des Monats auszurichten: „Haltet Frieden untereinander!“ (Markus 9,50) Und in diesem Sinn habe ich auch für den Mann und für die Situation gebetet.

Zwei Tage später traf ich den Mann zur üblichen Zeit wieder im Fitnesscenter. Ich sah ihn gleich, er mich aber erst am Schluss, als er schon am Weggehen war. Ich sagte deutlich: „Grüezi, Herr K.“ Er antwortete etwas knapp. Trotzdem denke ich, dass zwischen uns wieder alles in Ordnung ist. Und zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass auch der Groll in mir verflogen war.
K.R.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2016)
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