Entwicklung ganzheitlich
Offener Brief an Kardinal Michael Czerny
Sehr geehrter Kardinal Czerny!
Die Geste mag belanglos erscheinen: Bei der Verleihung vom Klaus-Hemmerle-Preis am 26. Januar im Aachener Dom sind Sie auf die Musikerinnen und Musiker des Kammerensembles Unisono zugegangen und haben ihnen einzeln die Hand gegeben. Normalerweise bleibt es dabei, dass Musikern bei derartigen Veranstaltungen applaudiert wird. Der Preisträger steht im Rampenlicht, muss sich konzentrieren auf das, was passiert und gesagt wird. Und doch hatten Sie in dieser Situation noch die Achtsamkeit und Herzensweite, das Protokoll zu durchbrechen und Ihren Platz zu verlassen, weil Sie in den Musikern Personen sehen und ihnen begegnen wollen!
Die Geste ist bezeichnend, zeugt sie doch von Ihrer Achtung vor der Würde jedes Menschen. Diese Achtung schlägt sich in Ihrem langjährigen Einsatz für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit nieder. Sie gehen hin, wo es weh tut. Ob Sie im Auftrag von Papst Franziskus ukrainische Kriegsflüchtlinge oder den von Armut und politischen Krisen gebeutelten Südsudan aufsuchen: Sie haben aufrichtig Interesse an den Menschen und lassen sich von ihrem Leid berühren!
Ihre Mutter war jüdischer Abstammung und wurde deswegen von den Nazis im KZ Theresienstadt gefangen gehalten, andere Verwandte gar im Holocaust umgebracht. Mit dieser Geschichte sind Sie den aufgrund ihres Glaubens Verfolgten nahe. Nach den traumatischen Erlebnissen im Krieg flüchtete Ihre Familie von der damaligen Tschechoslowakei nach Kanada, als Sie noch ein Kleinkind waren. So haben Sie selbst erlebt, wie es ist, entwurzelt zu werden, ohne Sicherheiten in einem fremden Land anzukommen und sich ein völlig neues Leben aufbauen zu müssen.
Nicht von ungefähr tragen Sie ein hölzernes Brustkreuz aus den Überresten eines Flüchtlingsbootes von der Mittelmeerinsel Lampedusa. Es soll Sie immer daran erinnern, „den nach Hilfe rufenden Menschen in den Mittelpunkt zu stellen – wie Jesus es getan hat.“
Sie lassen sich von den Nöten der Menschheit bewegen und reagieren darauf, um sie zu lindern. So, als Sie den Mut hatten, 1989 nach der Ermordung von sechs Jesuiten und zwei Frauen in der Jesuiten-Universität in San Salvador dort Vizedirektor und Direktor des angegliederten Menschenrechts-Instituts zu werden. Oder als Sie 2002 in Nairobi mit der Gründung des African Jesuit AIDS Network gegen die Ausgrenzung von HIV-Kranken kämpften.
Ihnen geht es ganz im Sinn der katholischen Soziallehre darum, dass alle Menschen sich entfalten können. Daher machen Sie sich für eine Wirtschaft stark, die dem Gemeinwohl aller dient und die Ausbeutung von Mensch und Natur beendet. Mit diesen Augen kann Entwicklung nicht allein auf Wirtschaftswachstum ausgerichtet sein, sie muss neben den körperlichen auch den geistigen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen dienen. Insofern verkörpern Sie das Ziel Ihres Dikasteriums, die ganzheitliche Entwicklung des Menschen zu fördern.
Geschwisterlichkeit ist daher für Sie kein Modewort, es ist Ihre Haltung! Mit Ihrem vielfältigen Engagement buchstabieren Sie zudem aus, wie Strukturen geschaffen oder so verändert werden können, dass die Menschheit „geschwisterlicher“ wird.
Mit freundlichen Grüßen
Clemens Behr,
Redaktion NEUE STADT
Kardinal Michael Czerny
wurde 1946 in Brünn/Tschechoslowakei geboren. 1948 wanderte seine Familie nach Kanada aus. Der Jesuit gründete in Toronto das Zentrum für Glaube und Soziale Gerechtigkeit, in Nairobi das Afrikanische AIDS-Netzwerk der Jesuiten und leitete das Institut für Menschenrechte in San Salvador. Czerny arbeitet seit 2010 im Vatikan und steht seit 2022 dem Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen vor. Im Januar erhielt Kardinal Czerny in Aachen den Klaus-Hemmerle-Preis.
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, März/April 2024.
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