10. April 2010

Verstörende Sprache!

Von nst3

Es ist genug!“, möchte man sagen. „Es reicht jetzt!“ – „Wir können und wollen es nicht mehr hören!“ – „Erspart uns weitere Details, zwingt uns nicht immer wieder neu in diese Abgründe zu schauen!“

Es ist in der Tat schwer erträglich, was in den letzten Wochen und Monaten vor allem in Deutschland an Fällen von sexuellem Missbrauch an Kindern zu Tage gefördert und – oft in allen furchtbaren Details – in Sprache gebracht wurde: geschehen durch Priester und Ordensleute der katholischen Kirche, durch Erzieher an privaten Internaten oder in Einrichtungen und Verbänden, in denen Jugendarbeit gemacht wird.

Der Wunsch, das Unerhörte und Unsagbare nicht mehr hören zu wollen, mag bei vielen eine natürliche Reaktion sein. Schon als „Außenstehender“ das anzuschauen, anzuhören, zu erahnen, was da in Kindern unwiderruflich zerstört wurde, hat etwas Verstörendes, ja sogar Zerstörerisches an sich. Davor möchte man sich und andere schützen. Und was bringt es den Betroffenen, wenn ich mich auch noch mit all diesem Zeug kaputt mache?

Darüber hinaus – und das wird in diesen Tagen immer deutlicher – gab und gibt es wohl immer auch den Versuch, die Täter zu schützen. Vielleicht haben sie Reue gezeigt, sich für einen therapeutisch begleiteten vermeintlichen Neuanfang bereit erklärt, haben einen Ruf, eine Zukunft zu verlieren, sollen noch einmal eine Chance bekommen: die Mitbrüder, Kollegen, Vorgesetzten, Ehemänner … Was geschehen ist, ist geschehen und ist schlimm genug. Aber hat nicht jeder eine zweite Chance verdient?

Nicht zuletzt gibt es, ganz besonders im kirchlichen Bereich, dann auch noch höhere Güter zu schützen: die Unversehrtheit des Glaubens, der hohe moralische Anspruch, die Reinheit und Heiligkeit der Kirche, die eigene geistliche Gemeinschaft, den über lange Jahre mühsam erworbenen guten Ruf der Elite-Schule, den gesellschaftlichen Status der eigenen Familie.

Und so wurde verheimlicht, vertuscht, ge- und verschwiegen und es wurden kindliche Opfer sogar zum Schweigen „verdammt“ (jedes andere Wort wäre unangebracht). In seinem wirklich verstörenden Beitrag „Sprachloses Kind“ beschreibt der Autor Bodo Kirchhoff im Spiegel 11/2010 das „ungeheuere Sprachloch“, das seine eigene Missbrauchserfahrung in ihm hinterlassen hat. Die Opfer, so seine – von vielen anderen auf ähnliche Weise geteilte – Schlussfolgerung, müssen reden; müssen versuchen, eine Sprache zu finden für das Unaussprechliche, müssen „ohne Rücksicht auf sich und andere“ Wort für Wort erzählen.

Es herrscht – im Großen und Ganzen – mittlerweile Einvernehmen darüber, dass in Missbrauchsfällen die Opfer den absoluten Vorrang haben müssen. Aber was sie brauchen, sind nicht in erster Linie Entschuldigungen oder Entschädigung. Sie brauchen die Möglichkeit, zu reden, Worte zu suchen und zu finden für das, was ihnen widerfahren ist.

Wo und wie diese Möglichkeiten zu schaffen sind, das ist im Sinne der Opfer mit großem Respekt und höchster Sensibilität zu verstehen. In seltenen Fällen mag dies auch eine große Öffentlichkeit sein. In der Regel sind zunächst einmal vertrauensvolle persönliche Ansprechpartner gefragt, die über jeden Verdacht erhaben sind, Täter oder betroffene Institutionen schützen zu wollen. Und die Zugangswege zu diesen Gesprächspartnern müssen einfach und niedrigschwellig sein.

In jedem Fall aber muss bei uns allen die Bereitschaft wach bleiben, die Opfer anzuhören und uns von ihren Widerfahrnissen stören, ja verstören zu lassen. Ohne Wenn und Aber!

Joachim Schwind

„Der sogenannte Missbrauch…hinterlässt ein ungeheures Sprachloch. Es ist ein Loch…, das weder die Zeit heilen kann noch Prozesse; der Begriff Verjährung ist in jedem Fall absurd. Ja, mit den Jahren vergrößert sich dieses Loch sogar, denn zur mangelnden Sprache kommen noch die immer ungenaueren, von keiner Sprache geretteten Erinnerungen.“
Bodo Kirchhoff, Sprachloses Kind, Spiegel 11/2010

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2010)
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