Verstörende Sprache!
Es ist genug!“, möchte man sagen. „Es reicht jetzt!“ – „Wir können und wollen es nicht mehr hören!“ – „Erspart uns weitere Details, zwingt uns nicht immer wieder neu in diese Abgründe zu schauen!“
Es ist in der Tat schwer erträglich, was in den letzten Wochen und Monaten vor allem in Deutschland an Fällen von sexuellem Missbrauch an Kindern zu Tage gefördert und – oft in allen furchtbaren Details – in Sprache gebracht wurde: geschehen durch Priester und Ordensleute der katholischen Kirche, durch Erzieher an privaten Internaten oder in Einrichtungen und Verbänden, in denen Jugendarbeit gemacht wird.
Der Wunsch, das Unerhörte und Unsagbare nicht mehr hören zu wollen, mag bei vielen eine natürliche Reaktion sein. Schon als „Außenstehender“ das anzuschauen, anzuhören, zu erahnen, was da in Kindern unwiderruflich zerstört wurde, hat etwas Verstörendes, ja sogar Zerstörerisches an sich. Davor möchte man sich und andere schützen. Und was bringt es den Betroffenen, wenn ich mich auch noch mit all diesem Zeug kaputt mache?
Darüber hinaus – und das wird in diesen Tagen immer deutlicher – gab und gibt es wohl immer auch den Versuch, die Täter zu schützen. Vielleicht haben sie Reue gezeigt, sich für einen therapeutisch begleiteten vermeintlichen Neuanfang bereit erklärt, haben einen Ruf, eine Zukunft zu verlieren, sollen noch einmal eine Chance bekommen: die Mitbrüder, Kollegen, Vorgesetzten, Ehemänner … Was geschehen ist, ist geschehen und ist schlimm genug. Aber hat nicht jeder eine zweite Chance verdient?
Nicht zuletzt gibt es, ganz besonders im kirchlichen Bereich, dann auch noch höhere Güter zu schützen: die Unversehrtheit des Glaubens, der hohe moralische Anspruch, die Reinheit und Heiligkeit der Kirche, die eigene geistliche Gemeinschaft, den über lange Jahre mühsam erworbenen guten Ruf der Elite-Schule, den gesellschaftlichen Status der eigenen Familie.
Und so wurde verheimlicht, vertuscht, ge- und verschwiegen und es wurden kindliche Opfer sogar zum Schweigen „verdammt“ (jedes andere Wort wäre unangebracht). In seinem wirklich verstörenden Beitrag „Sprachloses Kind“ beschreibt der Autor Bodo Kirchhoff im Spiegel 11/2010 das „ungeheuere Sprachloch“, das seine eigene Missbrauchserfahrung in ihm hinterlassen hat. Die Opfer, so seine – von vielen anderen auf ähnliche Weise geteilte – Schlussfolgerung, müssen reden; müssen versuchen, eine Sprache zu finden für das Unaussprechliche, müssen „ohne Rücksicht auf sich und andere“ Wort für Wort erzählen.
Es herrscht – im Großen und Ganzen – mittlerweile Einvernehmen darüber, dass in Missbrauchsfällen die Opfer den absoluten Vorrang haben müssen. Aber was sie brauchen, sind nicht in erster Linie Entschuldigungen oder Entschädigung. Sie brauchen die Möglichkeit, zu reden, Worte zu suchen und zu finden für das, was ihnen widerfahren ist.
Wo und wie diese Möglichkeiten zu schaffen sind, das ist im Sinne der Opfer mit großem Respekt und höchster Sensibilität zu verstehen. In seltenen Fällen mag dies auch eine große Öffentlichkeit sein. In der Regel sind zunächst einmal vertrauensvolle persönliche Ansprechpartner gefragt, die über jeden Verdacht erhaben sind, Täter oder betroffene Institutionen schützen zu wollen. Und die Zugangswege zu diesen Gesprächspartnern müssen einfach und niedrigschwellig sein.
In jedem Fall aber muss bei uns allen die Bereitschaft wach bleiben, die Opfer anzuhören und uns von ihren Widerfahrnissen stören, ja verstören zu lassen. Ohne Wenn und Aber!
Joachim Schwind
„Der sogenannte Missbrauch…hinterlässt ein ungeheures Sprachloch. Es ist ein Loch…, das weder die Zeit heilen kann noch Prozesse; der Begriff Verjährung ist in jedem Fall absurd. Ja, mit den Jahren vergrößert sich dieses Loch sogar, denn zur mangelnden Sprache kommen noch die immer ungenaueren, von keiner Sprache geretteten Erinnerungen.“
Bodo Kirchhoff, Sprachloses Kind, Spiegel 11/2010
(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2010)
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>> Es ist genug!“, möchte man sagen. „Es reicht jetzt!“.der hohe moralische Anspruch, die Reinheit und Heiligkeit der Kirche, die eigene geistliche Gemeinschaft, den über lange Jahre mühsam erworbenen guten Ruf der Elite-Schule, den gesellschaftlichen Status der eigenen Familie.<<
An dieser Stelle war ich im Begriffe den Artikel, enttäuscht damit wie mit etlichen anderen, zur Seite zu legen, um dann aber doch gleich im nächsten Absatz erleichtert, aber auch erstaunt, weiter zu lesen. Die plötzlich so beherzte Kritik am Umgang mit den “verstörenden” Informationen, schien die voran gegangene lange Liste von ‘Rechtfertigungen’ für den so kritisierten Umgang ein wenig wett zu machen. Leider nur bis zum übernächsten Absatz, um dann aber gegen Ende des Artikels mit dem klaren “ohne wenn und aber” doch wieder beruhigt zu sein.
Zuerst verstand ich nicht, was es war, warum in mir speziell die kirchlichen Stellungnahmen allesamt ein äußerst ungutes Gefühl auslösten, dass daran etwas nicht stimmt. Landauf, landab wurde in einem Atemzug mit der zum Ausdruck gebrachten Bestürzung, ob der schrecklichen Enthüllungen etc. die Sorge um die Glaubwürdigkeit der Kirche betont thematisiert. Dieses “in einem Atemzug” wird, das wurde mir dann zunehmend klar, von der Allgemeinheit, insbesondere der nicht gläubigen, einzig und allein als Angst ums Ansehen gedeutet, was letztlich gleichbedeutend ist mit Angst um Machtverlust, egal ob der Sprecher das so meinte oder nicht. Die Allgemeinheit hat ein Gespür dafür. Das vor allem hält den Vertuschungsverdacht so recht am Leben. Gemessen an dem, was über die Opfer enthüllt wird, ist eine solche Reaktion fürchterlich und im Grunde eine erneute Misshandlung. Sie verrät in der Tat Angst um Machtverlust. Ist nicht die Glaubwürdigkeit der Kirche in Gott und der Botschaft Jesu begründet und nicht in der guten oder schlechten Verwirklichung der Botschaft durch die Gläubigen? Letztere ist ja doch immer beides. Wo aber in der Stoßrichtung des Motivs und der Taten das Reich Gottes unter den Gläubigen gelebt wird, wo Gott in ihrer Mitte genug Luft zum atmen hat, sorgt er selber für die Glaubwürdigkeit der Kirche trotz ihrer Fehler. Die Angst ums Ansehen zeigt, dass es einem tatsächlich unbewusst doch auch um Ansehen und Macht geht und man Gott längst nicht mehr genug Luft zum atmen gibt.
Die Litanei der ‘Rechtfertigungen’ in diesem Artikel, hat eine ähnliche Wirkung. Sie ist gegenüber dem Schweigen, zu dem man die Kinder “verdammt” hat, allzu beredt in eigenem Glaubwürdigkeitsrettungs- und Erklärungsdrang. Selbst wenn man sie einzig als Information oder Erklärung verstanden wissen will, so ist sie gemessen an dem Übel, was den Kindern angetan wurde, an dieser Stelle in einem Atemzug mit der “Verstörung” dennoch zu viel des Eigennutzes. Es entsteht außerdem der Eindruck, als gelte die Bestürzung dem Glaubwürdigkeitsverlust und nicht dem, was das Opfer erlitten hat.
Herr Bodo Kirchhoff, den ich, nachdem ich ihn nun mehrfach in Sendungen erlebt habe, sehr schätze, ist selber ein Opfer. Wenn also er von Sprachlosigkeit spricht und davon, wie wichtig es für die Opfer ist, für das Erlebte eine Sprache zu finden, so spricht er mit allem Recht als Opfer so. Wenn aber die Kirche hingeht und ähnlich wie mit dem Reden von der Glaubwürdigkeit nun ständig wiederholt, die Opfer bräuchten nicht so sehr eine Entschädigung, sondern die Möglichkeit zu sprechen, dann stimmt das zwar in der Sache und von Seiten der Opfer, doch von Seiten der Täter und der ihre Tat vertuschenden Institutionen ist auch das ein Hohn, gemessen an dem, was den kindlichen Opfern widerfahren ist. Es steht dem Täter nicht zu, darüber zu befinden, was das Opfer nach einem nicht mehr umkehrbaren gewalttätigen Eingriff in sein kindliches Leben wirklich als Zeichen braucht.
Nun sieht sich die Kirche berechtigterweise zwar für beide in der Pflicht, Opfer und Täter, doch Vorrang gab sie bislang in Gestalt der Vertuschung offenbar immer zunächst den Tätern. Solches Reden nun erweckt zwar den Schein der Sorge für die Opfer, dient aber in den Augen der nicht gläubigen Allgemeinheit auch wieder nur der eigenen Schadensbegrenzung. Und natürlich ist finanzielle Entschädigung keine wirkliche Wiedergutmachung und dürfte es außerdem einen hohen juristischen Aufwand bedeuten, tatsächliche Opfer von denen zu unterscheiden, die auch hier wieder perfide den Missbrauch missbrauchen, um etwa ganz andere Ziele damit zu verfolgen. Unübersehbar springen natürlich auch die auf den Zug auf, die z.B. einzig das gezielte Niedermachen und Vernichtenwollen der Kirche im Sinn haben, das so alt ist wie die Kirche selber und in immer neuem Gewand daher kommt. Oder Verfechter der von Gender Mainstreaming verfolgten widernatürlichen Gleichmacherei (nicht gemeint ist Gleichberechtigung) der Geschlechter und der dafür vehement – mittlerweile sogar mit rechtsstaatlichen Mitteln – verfolgten Liberalisierung jedweder Art von Sexualität, eben auch Kindersex. Diese Instrumentalisierung der öffentlichen Missbrauchsdebatte ist schlimm, kann sie in gefährliche Richtung bringen, ändert aber nichts an der Tatsache, dass eine finanzielle Entschädigung, nach außen hin ein mögliches, glaubhaft konkretes Zeichen der Hinwendung und Sorge für das Opfer sein kann. Alles andere wie Therapieangebot etc. kann nur selbstverständlich sein.
Der Heilige Vater hat mit seinem Schweigen und Handeln und verweisend auf die, uns nun von der Welt vorgehaltenen Sünden und auf die notwendige Buße, den einzig richtigen Weg beschritten. Es wird wohl noch dauern bis alle Amtsträger und Gläubige begreifen, worum es Gott selber in dieser ganzen Situation geht.
Wenn man das Ungeheuerliche all der Enthüllungen der letzten Wochen mal wirklich an sich heran lässt und versucht es zuende zu denken, dann wird einem die ganze Wucht dieser menschheitlichen Sündennot und ihre hohe gesamtgesellschaftliche – nicht nur kirchliche- Relevanz so recht bewusst. Und es wird klar, dass darüber gesprochen werden muss. Es kann ja nicht angehen, dass die alten Machtmännerkriege nun in Zeiten wachsender weltweiter Friedensbemühungen im sogenannten zivilisierten Westen klammheimlich abgelöst werden durch sexuelle Gewalt an völlig wehrlosen Kindern. Kirchlicherseits ist zwar die Tatsache, dass überhaupt eine Öffentlichkeit notwendig wurde und kein innerkirchlicher Selbstreinigungsprozess beizeiten stattfand, der die Opfer und uns alle vor solch zerstörerischer Öffentlichkeit hätte bewahren können, das wahre Übel. Doch die Kirche ist ja als ganze immer auch Gottes Werkzeug für die Welt. Gott selber ist es deshalb, der durch die nun eingetretene Öffentlichkeit die Kirche herausfordert als erste diesem Übel nachhaltig zu begegnen. Sie trägt in sich auch alle Sünden der Gesellschaft, und kennt sie, was liegt näher dass Gott sie zum Werkzeug macht.
Sexuelle Gewalt an Kindern deckt jedenfalls schonungslos eine gesamtmenschheitliche Not auf. Auch das ist mir durch die Ausführungen von Bodo Kirchhoff erstmals so recht bewusst geworden. In den TV-Diskussionen hat man den Eindruck, dass die kirchlichen Vertreter sich aus Angst ums Ansehen fast nur verteidigen, anstatt die wahre Not der Welt mit diesem Phänomen mutig anzusprechen.