26. September 2011

Der große Sprung – aber wohin?

Von nst_xy

„Der große Sprung nach vorn”, hieß eine Wirtschaftskampagne, mit der Mao Zedong 1958 China voranbringen wollte. Das Unternehmen endete in einer der größten Hungersnöte Chinas. Heute ist das „Reich der Mitte” wieder auf dem Sprung. Und wirtschaftlich scheint er zu gelingen. Gefahr droht allerdings von einer „geistlichen Hungersnot”, wie Joachim Schwind auf einer Chinareise beobachten konnte.

Peking, Freitag, 20.5.
„Glanzlichter Chinas”, lautet der Titel dieser zehntägigen Reise. Und um es vorweg zu sagen: China versucht zu glänzen, wo immer es kann. Schon am Flughafen präsentiert es sich modern, aufgeschlossen, weltläufig. Die Beamtinnen und Beamten der Einwanderungs- und Zollbehörden sind betont zuvorkommend und bitten nach der Abfertigung sogar um eine anonyme Bewertung ihrer Kundenfreundlichkeit.
Über Peking liegt eine unangenehme Wolke aus Sandstaub, aber von dem viel beschriebenen Smog ist wenig zu spüren. In drei Tagen, so wissen informierte Pekinger, wird es regnen; denn Regen wird hier üblicherweise auf Regierungsanordnung durch Einsatz von Chemikalien ausgelöst.
Die Fahrräder, die bis vor zehn Jahren das Straßenbild prägten, sind fast völlig verschwunden.
Mittelklassewagen und überraschend viele Großraumautos der Oberklasse beherrschen die Szene. Die jungen Leute sind auffallend trendig gekleidet.
Die „Hutong”, die klassischen Pekinger Wohnviertel mit engen Gassen, kleinen Häuschen und Gemeinschaftstoiletten, müssen immer mehr den modernen Wohnsilos oder – dem Hutong-Stil nachempfundenen – Einkaufsstraßen weichen.

Peking, Samstag, 21.5.
Tagesausflug zur „Großen Mauer” bei Badaling. Das vor über 2000 Jahren begonnene Bauwerk erstreckt sich auf 6000 Kilometer Gesamtlänge. Es ist Wochenende, und da die meisten Chinesen einmal im Leben auf der „Großen Mauer” gewesen sein wollen, ist an einigen Stellen kaum ein Durchkommen.
Der innerchinesische Tourismus boomt: auch das ein Zeichen des wachsenden Wohlstandes.

Doch der neue Reichtum erreicht vor allem die Bewohner der großen Städte. Auf dem Land sieht es ganz anders aus.

„Revolution liegt in der Luft”, sagt der Redakteur einer regierungseigenen Zeitung. „Wenn sich an diesem Wohlstandsgefälle nichts ändert, werden wir in den nächsten zehn Jahren einen Umsturz erleben.” Und auf die Frage, ob China in seiner heutigen Gestalt so etwas überleben würde, schüttelt er energisch den Kopf. Doch was ein möglicherweise auseinanderbrechendes China für den Rest der Welt bedeuten würde, mag man sich lieber nicht ausmalen.
Aus drei verschiedenen Regionen werden in diesen Tagen über inoffizielle Kanäle heftige Unruhen bekannt, die offenbar alle mit dem massiven sozialen Gefälle zwischen Stadt und Land zu tun haben. Es ist schwer bis unmöglich, an genauere Informationen heranzukommen. Insider benutzen twitter-ähnliche Miniblogs. Die großen sozialen Netzwerke wie Facebook sind in China blockiert. Heutzutage zieht China seine „Großen Mauern” in der virtuellen Welt hoch.

Peking, Sonntag, 22.5.
Auf dem „Platz des Himmlischen Friedens” stehen Tausende, vielleicht sogar Zehntausende Chinesen stundenlang an, um am Sarg von Mao Zedong vorbeizudefilieren. Er wird vom einfachen Volk immer noch hoch verehrt. Trotz (oder wegen) der Menschenmassen ist der fast 40 Hektar große Tienanmen-Platz nicht nur der größte, sondern wohl auch der am besten überwachte Platz der Welt. Die Studentenproteste von 1989 und die Demonstrationen der 1999 verbotenen Falun GongBewegung haben den Regierenden deutlich gemacht, wie schnell solche Aufbrüche aus dem Ruder laufen können.
Im Norden schließt sich der Kaiserpalast an, auch „Verbotene Stadt” genannt. Seit 1421 residierten hier offiziell die Kaiser der Ming- und der Qing-Dynastie. „Und bis heute wird China nach dem kaiserlichen System regiert”, sagt im vertraulichen Gespräch eine chinesische Historikerin:
„Für viele Chinesen gilt immer noch: Die Macht kommt von Gott, von oben; ihr ist zu gehorchen.” Und der Obrigkeit, so die Historikerin, sei traditionell nicht allzu viel an der Bildung und Erziehung der breiten Bevölkerungsschichten gelegen.
Man merkt es, möchte man ab und zu betonen, wenn man in größeren Menschenansammlungen auf allzu ungehobeltes Verhalten stößt.

Xian, Montag, 23.5.
Zwei Flugstunden südwestlich von Peking liegt Xian. Die Stadt war 1120 Jahre lang Hauptstadt des chinesischen Reiches. Die Xianesen sind stolz auf die 27 Kaiser und Kaiserinnen, die hier begraben liegen, ganz besonders natürlich auf die Grabanlage des ersten chinesischen Kaisers, Qin Shi Huang, mit den weltberühmten mehr als 7000 lebensgroßen Terrakotta-Soldaten.
Beim Besuch der „Großen Wildgans-Pagode”, einer buddhistischen Klosteranlage, zählt die örtliche Reiseführerin, Li Mei, die offiziellen Religionen in China auf, zu denen auch das Christentum gehört. Und sie berichtet, dass neuerdings in den Schulen die ethischen Richtlinien des Philosophen Konfuzius (551 bis 479 v. C.) gelehrt werden.

Die Regierung hat erkannt, dass eine Gesellschaft, in der fast alle Werte verloren gegangen sind, auf Dauer ihren Zusammenhalt verlieren könnte.

„Nach 30 Jahren Mao-Sozialismus und 30 Jahren Hinwendung zum Kapitalismus”, so beurteilt es ein sehr optimistischer politischer Beobachter, „sind jetzt vielleicht 30 Jahre ethische Erneuerung angesagt.” – Es wäre wünschenswert und dringend erforderlich – angesichts von inzwischen zwei Generationen, die durch die Ein-Kind-Politik nicht einmal mehr geschwisterliche Solidarität erlebt haben!

Guilin, Mittwoch, 25.5.
Die dritte Station der Reise ist die Bilderbuch-Landschaft am Li-Fluss im Süden Chinas, nahe der Klein stadt (930 000 Einwohner) Guilin. „Die schönste unter dem Himmel”, wird sie genannt, und die Regierung tut viel, um die Schönheit zu erhalten. Jede Art von schmutziger Industrie ist in diesem Distrikt verboten. Und so hat die Umgebung von Guilin die höchste Luftqualitätsstufe des Landes.
Was die Regierung beschließt, wird durchgesetzt. In der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit” wird gerade berichtet, dass westliche Unternehmen mit einem gewissen Neid auf die schnellen und einfachen Entscheidungsprozesse in China schielen und sich fragen, ob die westlichen Demokratien geeignet sind, mit China mitzuhalten.

Shanghai, Freitag, 27.5.
Letztes „Glanzlicht” der Reise ist Shanghai. Hier gibt es, wie Lu Chong, der örtliche Reiseführer stolz betont, eigentlich nur Superlative. Wo China danach strebt, den ersten Platz zu erreichen, will Shanghai den allerersten Platz einnehmen. „In Peking wird geredet, in Kanton wird gegessen, in Shanghai wird getan”, sagt der Volksmund – in Shanghai.
Eigentlich ist es noch nicht so lange her, dass Shanghai nicht viel mehr als ein Fischerdorf war.
So sind die wenigen „historischen” Elemente wie die Altstadt und der Yu-Garten aus der Ming- Zeit kaum mehr als eine Nadel in einem Heuhaufen, wie der Blick vom 88. Stockwerk des Jinmao- Towers auf die Megacity Shanghai beweist.

Wer diese Stadt erlebt, hat Mühe, China noch irgendwie mit Kommunismus in Verbindung zu bringen. Was hier vor sich geht, ist ein entfesselter Kapitalismus in Reinkultur.

„Unter der Woche arbeiten wir pausenlos, um Geld zu verdienen”, sagt der an die 30-jährige Herr Fu nicht ohne Stolz, „am Wochenende schlafen wir, und unsere Religion ist der ,Moneyismus'”. (engl. Money: Geld, Anm. d. Red.) Der Kapitalismus hat nur eine Grenze: Er darf das politische System nicht in Frage stellen. Doch warum sollte er auch? Schließlich schafft dieses politische System die idealen Rahmenbedingungen.
China steckt – so mein persönliches Resümee dieser Reise – in einem Schwindel erregenden Veränderungsprozess. Bei allen Vorbehalten gegen ein autoritäres Regime nötigt es großen Respekt ab, mit welchem hohen politischen Sachverstand dieser „Supertanker” gesteuert wird.
Wirtschaftlich ist China dabei, den Platz unter den Ersten zurückzuerobern, den es zu Beginn der Neuzeit innehatte (ohne dass uns Europäern das bewusst war!).
Was sich jedoch gesellschaftlich in China tut, gibt Anlass zu größter Sorge. Das nahezu vollständige Fehlen jeglicher Werte, die dem Veränderungsprozess eine innere Richtung geben könnten, wird sich über kurz oder lang bitter rächen.
„Der große Sprung nach vorn”, hieß eine Wirtschaftskampagne von Mao Zedong, die das Land 1958 in eine seiner größten Hungersnöte führte und bis zu 45 Millionen Menschen das Leben kostete. Heute ist China dabei, diesen „großen Sprung” zu verwirklichen. Wohin es springt, ist schwer zu sagen. Und welche Not der geistliche Hunger auslösen wird, ebenso.
Joachim Schwind

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September 2011)
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