29. November 2011

Sebastian Nerz, Piratenpartei Schiff ahoi!

Von nst_xy

Sehr geehrter Herr Nerz,

Sie vertreten eine Partei, die seit ihrem Berliner Wahlerfolg im September im Rampenlicht steht, sich aber schon seit fünf Jahren aufs glitschige politische Parkett wagt. Sie sind Teil einer politischen Bewegung, die mit der Gründung der schwedischen Piratpartiet Anfag 2006 erstmals ihre Flagge gehisst, aber mittlerweile Menschen auf allen Kontinenten erobert hat.

Der Zulauf ist ein Schuss vor den Bug der etablierten Parteien, die eingestehen müssen, dass Sie einen wichtigen Nerv treffen. Unter anderem, weil die rasante Entwicklung der digitalen Welt rechtliche und politische Entscheidungen verlangt, bei denen die Politik bisher kaum hinterherkommt.

Leicht werden Ihre Anliegen auf die umstrittene Legalisierung von Privatkopien und eine Reform des Urheberrechts reduziert. Sie treten aber auch für eine Stärkung der Bürgerrechte – weniger Überwachung, mehr Schutz der Privatsphäre – und für mehr Transparenz bei den Behörden ein. Lobenswerte Ziele; offen bleibt aber, wie Sie Staat und Bürger – etwa vor organisierter Kriminalität – schützen wollen.

Nach dem Entern des Berliner Abgeordnetenhauses haben Ihre Kollegen öffentlich eingestanden, sich in bestimmten Themen nicht auszukennen: eine Ehrlichkeit, die sich wohltuend vom Verhalten vieler Politiker abhebt. Übermäßiger und undurchsichtiger Abgeklärtheit setzen Sie unverbrauchte Offenheit und Frische entgegen, die man Ihnen allerdings auch als gefährliche Naivität ankreiden kann.

Die lange Liste der Arbeitsgemeinschaften in Ihrer Partei zeigt: Sie haben sich aufgemacht, zu vielen Sachbereichen eine eigene Position zu erarbeiten. Allerdings bleibt auf dem Weg von Ihren Kernthemen zu einem umfassenden Parteiprogramm noch viel zu tun: Zu Außen-, Finanz-, Kultur- und Wirtschaftspolitik haben wir bisher von den Piraten wenig gehört.

Die Zahl Ihrer Parteimitglieder ist inzwischen auf 15 000 gestiegen. Sie schaffen es, gerade jüngere Menschen neu für Politik zu interessieren. Sie holen sie nicht nur an die Wahlurnen, sondern wecken in vielen auch die Bereitschaft, selbst politisch in See zu stechen. Das tut der Demokratie gut!

Auf der anderen Seite bleibt der Freiheitsbegriff, auf dem Ihre politischen Ziele aufbauen, unscharf. Auch bei den Werten, die Sie vertreten wollen, haben Sie als Partei noch keine einheitliche Linie erkennen lassen. – Alles Zeichen, dass die Piraten erst noch dabei sind, sich zu formieren: ein Prozess, der Zeit braucht, in dem Sie zeigen können, ob Sie mehr drauf haben als politisches Säbelrasseln, und den wir gespannt verfolgen!

Nach der Atomkatastrophe von Fukushima hatte die Diskussion um die Sicherheit der Nuklearenergie den Grünen starken Wind in die Segel geblasen; schon nach wenigen Monaten war er aber wieder abgeflaut. Wir wünschen Ihnen, dass Ihr Piratenschiff nicht genauso schnell wieder versinkt wie es aus den Wellen der Politikverdrossenheit aufgetaucht ist. Denn Ihr Erscheinen auf der politischen See zwingt die anderen Parteien nachzudenken, wie volksnah sie noch sind, warum sie an Glaubwürdigkeit verloren haben und wo sie ihr Profil schärfen müssen.

Mit freundlichen Grüßen,
Clemens Behr
mit der ganzen Redaktion der NEUEN STADT

Unser Offener Brief  wendet sich an sebastian nerz (28), den Vorsitzenden der Piratenpartei Deutschland.

www.piratenpartei.at
www.piratenpartei.ch
www.piratenpartei.de
www.piratenpartei.lu

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2011)
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