18. Mai 2015

Kleine Stadt auf dem Berg

Von nst1

Vor fünfzig Jahren entstand in der hügeligen Landschaft der Toskana die erste Siedlung der Fokolar-Bewegung: Loppiano sollte eine Gesellschaft zeigen, die auf der gegenseitigen Liebe aufbaut. Was ist aus dieser Vision geworden?

Mohammad Shomali steht am Ambo der Kirche, die „Maria, der Gottesgebärerin“ (Maria Theotokos) geweiht ist. Seit einer Woche ist der Muslim mit seiner Frau aus dem Iran zu Besuch in Loppiano. Als Gäste nehmen sie am Gottesdienst teil, bei dem sie viele Bewohner treffen, von denen sie sich nun verabschieden möchten. „Loppiano scheint auf den ersten Blick eine einfache Siedlung zu sein“, sagt er. „Kommt man aber öfter her, erkennt man, dass sie viele verschiedene Ebenen hat, die man jedes Mal mehr und tiefer kennenlernt.“ Seit 1999 kommt das Ehepaar regelmäßig. Offenbar fühlt es sich hier zu Hause. In der Fokolar-Bewegung gäbe es überall den gleichen Geist, egal, an welchem Ort: „Wenn du die Angehörigen anschaust, denkst du, sie hätten die gleiche Mutter und den gleichen Vater.“

Antonio Marangoni ist 76 Jahre alt, Italiener. Seine Hände sind schwielig, sein Händedruck noch immer kraftvoll: „Selbst anpacken“ war zeitlebens sein Motto. In seinem vom Alter gezeichneten Gesicht stehen wache, klare, blaue Augen. Im März 1965 kam er zum ersten Mal in die damals unbesiedelte Hügellandschaft südlich von Florenz. Voller Tatendrang und mit wenig finanziellen Mitteln begannen die Aufbauarbeiten: „Angefangen haben wir vor allem mit dem Straßenbau, aber jeden Tag gab es andere Aufgaben – zuerst draußen, dann auch in den Häusern.“ Später arbeitete Antonio als Gärtner und half beim Aufbau der Betriebe. Von 1970 bis 2008 war er als Fahrer für die Einkäufe der Unternehmen unterwegs und ging mit der Musikgruppe Gen Rosso auf Tournee. Jetzt geht er älteren, hilfsbedürftigen Bewohnern zur Hand.

Erste Vorboten einer Siedlung hatten sich bereits 1949 und in den 50er-Jahren gezeigt: Jeweils in den Sommermonaten waren in den Dolomiten Menschen zusammengekommen, die sich vom Geist der entstehenden Fokolar-Bewegung angezogen fühlten. Chiara Lubich, ihre Gründerin, erläuterte einmal: „Es war ein Zusammenleben von Personen aller sozialer Schichten und Berufungen. Sie bildeten gleichsam eine Siedlung auf Zeit, gekennzeichnet von der praktischen Umsetzung des Neuen Gebotes Jesu: Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“ „Mariapoli“ nannten die Teilnehmer die Begegnungen, „Stadt Mariens“: So wie Maria der Welt Jesus, den Gottessohn, geschenkt hatte, war er auch hier erfahrbar.

Im Sommer 1962 war Chiara Lubich zu einem Besuch in der Schweiz. Von den umliegenden Bergen blickte sie auf Einsiedeln hinab mit der Benediktinerabtei, der Basilika, den Kloster- und Wirtschaftsgebäuden.

Der Ort, so ihr Eindruck, machte der Welt die benediktinische Regel „ora et labora“, „bete und arbeite“ sichtbar. In ihr Tagebuch schrieb sie: „Da wurde mir klar, dass etwas Ähnliches auch in der Bewegung entstehen würde.“ Ihr schwebte eine Siedlung vor, die zeigt, wie das gelebte Evangelium alle Lebensbereiche prägen und erneuern kann: eine dauerhafte, fest installierte „Mariapoli“, in der die Bewohner Zeugnis geben von einer Gesellschaft, in der die gegenseitige Liebe sozusagen „Grundgesetz“ ist.

Drei Jahre später wurde mit Loppiano in der Toskana die erste Siedlung gegründet. Die 80 Hektar Land verdankt die Bewegung Vincenzo Folonari, einem jungen Mann, der sie von seiner Familie geerbt hatte. Pasquale Foresi, Mitbegründer der Fokolar-Bewegung, hatte zunächst nur die Ausbildung der Fokolare von Grottaferrata hierher verlegen wollen. Schon bald schien Loppiano jedoch der geeignete Ort zu sein, an dem sich Chiara Lubichs Traum verwirklichen ließ. Als im Sommer 1964 eine erste Gruppe von etwa 30 Personen herkam, gab es auf den Hügeln außer Grasland, Feldern und Unkraut nur ein paar verfallene Ruinen. Heute stehen hier Wohn- und Gästehäuser, Betriebe, Schulungs- und Begegnungszentren.

Als Antonio die Fokolar-Bewegung kennenlernte, war er nicht einmal 18, arbeitete in einer Schuhfabrik, half in seiner Kirchengemeinde, wusste aber nicht recht, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Eines Tages erzählte ihm sein Pfarrer von der Fokolar-Bewegung. Was er hörte, begeisterte ihn. Da wollte er dazugehören. So wuchs ihm später die Gründung von Loppiano ans Herz: „Ich spürte, dass Gott mich um viele Dinge bittet, spürte, dass er wollte, dass ich mich diesem Projekt anschließe.“

Die Modellsiedlung sollte ein Ort werden, wo Frauen und Männer die Spiritualität vertiefen, Gemeinschaft leben mit Menschen aller Herren Länder, ein Stück geeinte Welt erfahren. Für Antonio Marangoni ist das Besondere an Loppiano, „dass man hier auf Menschen trifft, die im anderen einen Bruder, eine Schwester sehen.“ Dass jeder sich daran orientiert, schaffe unter den Bewohnern eine Einheit, die man so an anderen Orten nicht spüre.

Heute leben über 700 Menschen aus 60 Nationen in Loppiano: Familien, Ledige, Priester, Ordensleute, Studenten. Viele sind nur ein bis zwei Jahre dort, rund 300 Bewohner dauerhaft. Loppiano ist kein geschlossenes Dorf: Es besteht aus Gehöften und kleinen Ansammlungen von Gebäuden, verstreut auf einer grünen Hochebene. Fährt man von Incisa im Arno-Tal hinauf, trifft man bald auf das Universtitäts-Institut Sophia, das einen Master- sowie Doktoranden-Kurse anbietet. Über die asphaltierte Straße gelangt man vorbei an einem Haus für Jugendliche zur Theotokos-Kirche; mit ihrem auffälligen kupferspangrünen Schrägdach, das fast bis auf den Boden reicht, bildet sie das natürliche Zentrum der Siedlung, zu der weitere Häuser, Zentren, eine Sporthalle, Versammlungsräume im Auditorium, eine Schule für Familien und eine für Priester gehören. Außerdem ein Gewerbepark mit 30 Firmen.

Als „Schule des Lebens, in der es einen einzigen Lehrer gibt: Jesus“, bezeichnete Papst Franziskus Loppiano in einer Videobotschaft anlässlich ihres fünfzigjährigen Bestehens. Sie könne der Welt Hoffnung geben, bezeugen, dass das Evangelium Sauerteig und Salz in einer neuen Zivilisation der Liebe ist. Er sprach von einer in allen Bereichen der Gesellschaft erfahrbaren Kultur der Beziehungen, weil die Bewohner „sich im Alltag vor allem darum sorgen, untereinander die beständige gegenseitige Liebe zu leben.“

Fünfzig Jahre sind für einen Menschen ein reifes Alter, eine Stadt hingegen ist damit noch sehr jung, gibt Daniele Gasprini zu bedenken. Loppiano habe den Traum Chiara Lubichs von einer „Stadt auf dem Berg“ 1), deren Licht ausstrahlt, zwar schon im Ansatz verwirklicht, müsse aber immer dazulernen. Der 55-jährige Florentiner lebt und arbeitet seit 1972 in und um Loppiano, hat Höhen und Tiefen miterlebt. Gerade in diesen Monaten habe es eine schmerzliche Situation durchzustehen: „Azur“, ein Betrieb, der Holzmöbel und Einrichtungsgegenstände für Kinderzimmer hergestellt hat und in dem viele Bewohner, aber auch Menschen aus dem Umland gearbeitet haben, musste Insolvenz anmelden. „Und das trotz größter Bemühungen, die Firma zu retten. Jetzt müssen wir in Zeiten einer wirtschaftlichen Krise in Italien schauen, wie wir neue Arbeitsstätten schaffen können.“

Die Siedlung wirke in die Umgebung hinein, in das Land Italien, strahle aber auch international aus, ist Daniele Gasprini überzeugt. Seit über vierzig Jahren treffen sich jeweils am 1. Mai mehrere Tausend Jugendliche hier.

Seit 2010 versteht sich das mehrtägige Forum „LoppianoLab“ jährlich als Laboratorium, wo Menschen über eine neue Art des Wirtschaftens, Fragen der Kommunikation und der Kultur ins Gespräch kommen. Weit über eine Million Menschen haben in dem halben Jahrhundert zeitweilig in Loppiano mitgelebt oder die Siedlung besucht. Sie haben ihre Erlebnisse mitgenommen und hinausgetragen in ihren Alltag. Mittlerweile existieren weltweit 34 Siedlungen nach dem Vorbild von Loppiano.

In der Kirche Theotokos brandet nach den Worten von Mohammad Shomali Applaus auf. In der Fokolar-Bewegung haben er und seine Frau ein Leitbild gefunden, das mit ihren eigenen Glaubensüberzeugungen stimmig ist und das sie teilen. Auf dem weißen, grob bearbeiteten Ambo sind die griechischen Buchstaben Alpha und Omega eingeritzt. Anfang und Ende. Vor 50 Jahren wurde der Grundstein einer Modellsiedlung gelegt, die für Lebenserfahrung und Geschwisterlichkeit steht. Von einem Ende ist noch lange nicht die Rede. Mohammad Shomali geht vom Mikrofon zurück auf seinen Platz. Dann stimmt der Chor auf Spanisch das Schlusslied an: „Mi alma canta, canta la grandeza del Señor.“ Meine Seele besingt die Größe des Herrn.
Lea Ochßner

www.loppiano.it
1) vgl. Matthäus 5,14

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2015)
Ihre Meinung ist uns wichtig, schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München