16. Dezember 2015

Mit der Acht gegen das Trauma

Von nst1

Lehrerin Bärbel Radmacher hat ihrer Schule für zwei Wochen den Rücken gekehrt. Auf der griechischen Insel Lesbos hat sie in dieser Zeit traumatisierte Flüchtlinge aufgefangen.

„Am Vormittag zwischen fünf und elf kommen die Boote.“ Bärbel Radmacher aus Dinslaken am Niederrhein war in den letzten beiden Oktoberwochen auf Lesbos: Der griechischen Insel, auf der täglich zig Schlauchboote mit Flüchtenden ankommen, weil sie nur 15 bis 20 Kilometer von der türkischen Küste entfernt liegt. Nicht als Urlauberin war sie auf die Mittelmeerinsel gereist, sondern als Notfallpädagogin. „In den ersten Tagen sind wir morgens an den Strand gegangen und haben die Leute begrüßt: ‚Welcome to Europe!’“, erzählt die 55-Jährige, die sonst Englisch und evangelische Religion unterrichtet. Ihre Waldorfschule hatte sie für den Einsatz freigestellt. „Einige waren unsicher, ob sie wirklich europäischen Boden erreicht hatten.“

Küste von Lesbos. Europa lebend erreicht. – Alle Fotos: privat

Angstvolle Stunden auf dem Meer hatten die Geflüchteten hinter sich, zu 40 oder 50 auf einem Boot. „Manche fielen auf die Erde, erschöpft und nass, haben erstmal gebetet; manche schienen verstört, starr, wussten nicht, wie ihnen geschah; einige haben gejubelt, andere geweint, vielleicht vor Freude, die Etappe geschafft zu haben oder noch zu leben.“

Europa bedeutet Sicherheit, die Kriegsgräuel hinter sich lassen. Bärbel Radmacher und ihr Team haben Wärmedecken und Schokolade verteilt, sie in den Arm genommen. „Einem war der Rucksack ins Wasser gefallen: Er musste alles wegschmeißen! Einer kramte afghanisches Gebäck heraus, in Plastiktüten gewickelt, und bot es uns dankbar an. Er muss es monatelang transportiert haben; ob wir davon krank wurden, war uns in dem Moment egal!“
Vormittags war das Team in Karatepe eingesetzt, wo sich die syrischen Familien registrieren müssen. „Eine unglaubliche Menschenmenge, die wartet und wartet: Mütter mit Babys, Alte, Versehrte. Ist ja klar, dass die irgendwann ungeduldig werden. Und kein Absperrband, keine Gitter, keine Hinweisschilder. Mitten hindurch fahren auch noch Versorgungsfahrzeuge! Die Griechen schienen mit der Organisation völlig überfordert.“ Müll wegbringen, Springseile halten, um die Menschenströme irgendwie zu lenken, jene nach vorn bringen, die nicht gehen können oder am Ende sind. Vor allem war ihre Aufgabe aber, mit den Kindern zu spielen: Jonglierbälle herausgeholt, Luftballons verteilt, Fadenspiele angeleitet, Seil gesprungen. „Ablenken, den Leuten eine Freude machen“, so das Ziel: „Die Wartezeit überbrücken, damit die Eltern mal entspannen können.“

Spielen im Aufnahmelager.

Als Notfallpädagogen tätig war das Team an den Nachmittagen – und an den Wochenenden ganztägig – im „Hotspot“ Moria, der Registrierungsstelle für syrische Männer, Iraker, Afghanen und Eritreer. Hier steht auch ein Camp für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge. „Die meisten Kinder und Jugendlichen sind zum Glück mit ihren Familien unterwegs.“ Aber einige kommen allein oder haben ihre Angehörigen auf der Flucht verloren. Drei Wochen bleiben sie in Moria. „Bis die Behörden ihre Papiere bearbeitet haben, sind sie eingesperrt“, sagt Bärbel Radmacher. Mit ihrem Team hat sie sich um 24 afghanische Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren gekümmert. Was sie genau durchgemacht haben, konnten die Pädagogen nur erahnen. Einmal, weil Verständigung kaum über Sprache, sondern nur über Gestik und Mimik möglich war. Zum anderen ist das Erlebte kaum in Worte zu fassen: Die unglaubliche Brutalität, der gewaltsame Tod von Mitmenschen und die eigene Todesangst haben die Jungen traumatisiert.

Immer wieder die “Acht”

„Wir haben mit ihnen Aquarelle gemalt und Formen gezeichnet“, berichtet Bärbel Radmacher. „Wenn sie immer wieder eine Acht malen, ensteht ein Rhythmus, der sich auf sie überträgt. Sie kommen in einen Flow und dann löst sich etwas in ihnen, eine Blockade, das merkt man richtig.“

Sie waren zu zehnt, darunter Waldorflehrer und -kindergärtnerinnen, Heilpädagogen, Kunsttherapeuten und ein 75-jähriger Arzt aus Amsterdam. Entsendet hatten sie die „Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners“, ein Verein, der die Waldorfschulen weltweit unterstützt, aber auch notfallpädagogische Einsätze organisiert, die von der Aktion „Deutschland hilft“ mitfinanziert werden. Bei der Zusammensetzung der Teams wird darauf geachtet, dass zwei Drittel schon Erfahrung mit Einsätzen haben; ein Drittel können Neulinge sein.

Ein Trauma, so beschreibt es der Sonderpädagoge Bernd Ruf, der das Konzept für die Notfalleinsätze entwickelt hat, bedeutet gleichsam eine Störung der rhythmischen Abläufe im Organismus. „Wie eine Wunde am Körper aus eigener Kraft heilt, kann auch die Seele Verletzungen bewältigen“, erläutert Bärbel Radmacher.

„Notfallpädagogen versuchen, diesen Heilungsprozess anzuregen. Natürlich braucht es später oft auch eine therapeutische Behandlung. Ein Trauma ist ja kein Schnupfen!“ In der kurzen Zeit im Flüchtlingscamp ist eine Therapie nicht möglich. „Aber du kannst bei Kindern in den ersten vier bis acht Wochen nach einer Katastrophe mit pädagogischen Mitteln noch etwas erreichen.“
Sie haben mit Filz gearbeitet und aus Knetbienenwachs Vögel geformt. „Die Jugendlichen haben eine Sehnsucht nach schönen Formen, Kunst, schöner Musik; offenbar ist darin etwas Beruhigendes, Heilendes.“ Wenn eine Kollegin ihre Querflöte herausgeholt hat, saßen die Jungen im Rund und hörten zu. „Einem kamen die Tränen; endlch konnte er mal allen Schmerz herauslassen.“

Filzarbeiten im Flüchtlingscamp

Der Einsatz auf Lesbos war für Bärbel Radmacher der zweite. Bereits im März hatte sie sich mit einem anderen Team für zwei Wochen in einem Flüchtlingscamp mit 5 000 Familien in Zaxo im Nordirak eingebracht. In der riesigen Zeltstadt hatten sie mit Gruppen von 30 bis 40 – vorwiegend jesidischen – Kindern gearbeitet, die mit ihren Angehörigen vor dem IS aus dem Sindschargebirge geflohen waren.
2012 war Bärbel Rademacher bei einer Tagung von Waldorflehrern eher zufällig in einen Workshop für Notfallpädagogik geraten. „Das fand ich spannend. Denn ich war vor elf Jahren von einer staatlichen zu einer Waldorfschule gewechselt, weil mich an der anthroposophischen Pädagogik der Aspekt des Heilens fasziniert“, erzählt sie. „Heilende Erziehung haben Schulen sonst ja gar nicht im Blick.“ Bei einem Kongress zwei Jahr später nahm sie an einem Crashkurs Notfallpädagogik teil und ließ sich auf eine Liste von Leuten setzen, die zu Auslandseinsätzen bereit waren.
Der unmittelbare Kontakt mit den Geflüchteten und ihren Schicksalen hat Bärbel Radmacher bewegt und nachdenklich gemacht: „Wenn ein Erdbeben Häuser zerstört, ist der Auslöser die Natur. Aber das Leid der Flüchtlinge auf Lesbos haben Menschen verursacht!“ Sie meint damit Regierungen, Rebellen, Terrorgruppen in den Herkunftsländern, aber auch Politiker, Waffenhändler und Lobbyisten in Europa. „Warum müssen Flüchtlinge im 21. Jahrhundert noch im Schlauchboot übers Mittelmeer fahren? Viele könnten sich durchaus die Fähre oder das Flugzeug leisten. Aber sie bekommen bewusst kein Visum! Und zuhause fallen ihnen die Bomben auf den Kopf.“
Clemens Behr

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Dezember 2015)
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