17. Mai 2016

Heilung braucht Zeit

Von nst1

Samuel Verhegge ist 24 und  studiert in Leuven Kommunikationswissenschaften. In einem sehr persönlichen Brief an Freunde beschreibt er, wie er die Terroranschläge vom 22. März in Brüssel und die Wochen danach erlebt hat; was ihn bewegt und wie er darum ringt,
Antworten auf seine Fragen zu finden; wie er mitten in der allgemeinen Niedergeschlagenheit und dem sich ausbreitenden Fremdenhass nach einem Hoffnungsschimmer sucht.

Brüssel, 5. April 2016

Der 22. März wird für mich – wie für viele – immer untrennbar mit den Selbstmordattentaten am Flughafen Brüssel-Zaventem und in der U-Bahn-Station in der Innenstadt verbunden bleiben. Und damit mit den Taten von Menschen, in deren Leben die Liebe zum Nächsten keine Bedeutung hatte; und das alles ausgerechnet kurz vor Ostern, dem Fest, das doch wie kein anderes bezeugt, dass die Liebe alles überwindet.

Es war eine Woche, in der sich tiefe Hassgefühle abwechselten mit der inneren Gewissheit, dass Gott die Liebe zum Nächsten von uns will. Aber in solchen Momenten scheint das fast unmöglich. Und es liegt wohl in unserer Natur, nach einem Schuldigen zu suchen. Genau das geschieht auch in diesen Tagen hier in Belgien. Man fragt sich, was man falsch gemacht hat, wer für die Radikalisierung dieser Menschen verantwortlich ist.

Auch für mich stellten sich viele neue und drängende Fragen. Es war, als würde ich Gott täglich eine Reihe von Briefen schreiben und ständig im Briefkasten nachsehen, ob seine Antwort schon da war.

Dass ich die Antwort noch nicht habe, wird immer dann noch bedrängender, wenn meine engsten Freunde mich fragen, wieso ich die Muslime immer noch verteidige. „Sie sind schuld“, sagen sie. „Sie sollen in ihre Länder zurück!“ – „Warum sollen wir den Flüchtlingen so viele Chancen bieten, wenn sie uns dann umbringen?” – Das ist jedes Mal neu eine Herausforderung für mich. Und es fällt mir schwer. Es geht darum, mich in meine Freunde hineinversetzen: Sie haben nicht das Glück zu erfahren, dass Gott ihnen nah ist und dass nur von ihm eine Antwort kommen kann. Eine Antwort, die der Liebe entspringt. Sie haben Angst und das lässt sie zunächst nur an die eigene Sicherheit und die eigene Zukunft denken.

Die ganze Woche nach den Attentaten bemühte ich mich, eine andere Seite der Geschichte aufzuzeigen: „Diese Leute (die Terroristen) sind im Grunde keine echten Muslime. Der Islam hat Werte, die der Liebe entspringen und diese verbreiten!“ Aber da stoße ich sofort auf Widerstand.

Die Wunde ist noch zu frisch. Aber ich hoffe wirklich, ich könnte diese Wunden heilen. Doch Heilung ist ein Prozess, der Zeit braucht. Am Karfreitag kam ich dann sehr müde nach Hause und war es fast leid, „die Verwundeten“ zu heilen. Ich kann mir jetzt gut vorstellen, wie hart diese Tage für jene Menschen waren, die nach dem Unglück in den Notdiensten eingesetzt waren.

Es heißt immer, junge Leute hätten heute nicht mehr den Mut, ihren Glauben zum Ausdruck zu bringen. Wir wagen es nicht mehr, darüber zu sprechen, aus Angst, ausgegrenzt zu werden. Wir wagen es nicht mehr, das zu tun, was wir für gut und richtig halten. Doch vielleicht bremst uns nicht die Angst, sondern die Müdigkeit: Denn an die christlichen Ideale zu glauben, erfordert viel Kraft. In Belgien ist der Glaube mittlerweile eine solche Seltenheit, dass es jedes Mal Anstrengung kostet, für seine Werte einzustehen.

Jugendliche entscheiden sich, nicht mehr zu glauben, um sich keiner Kritik auszusetzen. – Bei diesem Gedanken wurde mir wieder neu bewusst, welche Kraft das Ideal des Friedens und der Einheit in sich trägt, das Chiara Lubich 1 uns aufgezeigt hat. Es kann wie eine Tasse Kaffee auf unsere Müdigkeit wirken. Es gibt uns die Kraft zu lächeln, wenn uns jemand kritische Fragen stellt: Sie bieten gleichzeitig die Möglichkeit, von unserer Überzeugung zu sprechen; zu sagen: Darum glaube ich an Jesus!

Ich möchte Gott darum bitten, innerlich noch mehr zu brennen. Darum, dass er dieses Licht in den Herzen anderer entzündet. Dass er uns befähigt, einander positiv zu sehen, statt uns nur zu kritisieren. Dass ein Spalt, der jetzt noch nach unten weist, zu einem Hoffnungsschimmer wird und Glaube ein Fest wird und keine Sorge. Und dass viele den Weg finden, eine Welt aufzubauen, in der so schreckliche Anschläge wie die vom 22. März nicht mehr vorkommen.

1) Chiara Lubich (1920 – 2008) war die Gründerin der Fokolar-Bewegung, einem der geistlichen Aufbrüche innerhalb der christlichen Kirchen. Die Ursprünge der geistlichen Gemeinschaft gehen auf das Jahr 1943 in Trient zurück. Inzwischen ist sie auf allen Kontinenten verbreitet. Ihr Ziel ist es, den Geist der Einheit und Geschwisterlichkeit verstärkt in Kirche und Gesellschaft und in alle Bereiche des menschlichen Lebens hineinzutragen.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2016)
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