28. September 2016

„Du kannst mich heil machen.“

Von nst1

Noch keine 30 und schon ausgebrannt? Tobias war so weit und erzählt, was ihn zurück ins Leben gebracht hat.

Er war verzweifelt, schlapp, antriebslos: „Ich hab nichts mehr auf die Reihe gebracht“, beschreibt Tobias diese Zeit. „Nach 50 Metern joggen war ich total am Ende: eine Erschöpfungsdepression.“
Im Rückblick wundert ihn nicht, dass es so weit gekommen war. Der heute 28 Jahre alte Elektrotechniker aus dem Allgäu hatte 50, 60 Stunden in der Woche gearbeitet, monatelang am Wochenende zu Hause geschuftet. „Ich bin leistungsorientiert und will alles 140-prozentig machen“, charakterisiert er sich selbst. Die „Workoholic“-Phase mag auch eine Flucht vor sich selbst und der Beziehung zu seiner Freundin gewesen sein, in der er schon länger keine Erfüllung mehr fand.

Ausgelaugt. - Foto: privat.

Ausgelaugt. – Foto: privat.

Seit er 17 war, war er mit ihr zusammen. Aber seit geraumer Zeit fühlte Tobias sich eingeengt, hätte sich gern mehr gesellschaftlich eingebracht. Das ließ sie nicht zu, beanspruchte ihn allein für sich. „Nach und nach hatte ich alle Freunde verloren.“ Mit ihr über die innere Entfremdung zu sprechen, war unmöglich, „ohne dass es zu einem Mega-Streit kam“. Andererseits fühlte er sich gebunden, ihr zur Treue verpflichtet. Seine Unzufriedenheit staute sich in einer Wut auf, die er in sich hineinfraß oder durch übermäßigen Sport verdrängte. „Joggen, Fußball, Radfahren. Mit der Freundin, mit der ich zusammenlebte, konnte ich viel Sport treiben. Das war unsere Gemeinsamkeit. Aber das reicht auf Dauer nicht.“
Ein Gespräch mit einem Arzt und Psychologen brachte ihn zum Schwitzen: „In kürzester Zeit brachte er brachial auf den Punkt, was ich tatsächlich von meinem Leben will und was mich hindert.“ Das löste einen Knoten in ihm. Er entschied sich, mit der Freundin Schluss zu machen und bei seiner Firma aufzuhören.

So froh er über die Trennung war, die zehn Jahre mit ihr hatten tiefe Spuren in ihm hinterlassen: Als sie nach nur zwei Monaten mit einem neuen Mann zusammen war, fiel er in eine tiefere Depression als zuvor.
Früher war er Messdiener gewesen, hatte mit der gleichen Begeisterung bei den Kindern und Jugendlichen der Fokolar-Bewegung mitgemacht. Tobias erinnert sich an prägende Erlebnisse aus jener Zeit. Später jedoch gab es auch große Enttäuschungen und er hielt sich fern. Auch war er schon lange nicht mehr zur Kirche gegangen. Jetzt, wo er völlig vor dem Nichts stand, zog es ihn wieder in einen Gottesdienst. Das Evangelium an jenem Tag erzählte von einem Aussätzigen, der zu Jesus kommt, weil er überzeugt ist, dass er ihn gesund machen kann. „Ich will, werde rein!“, sagt Jesus, berührt ihn und der Aussatz verschwindet. Die Erzählung traf ihn wie ein Schlag. „Gott, du kannst mich heil machen, wenn du willst!“, durchfuhr es ihn. „Ich hab Rotz und Wasser geheult. Denn dieser Mann, das war ich!“

Foto: privat

Tobias wollte sein Versprechen einlösen und mit dem Rad nach Assisi pilgern. – Foto: privat

Bei einem Griechenland-Urlaub hatte er aus einer Quelle getrunken, der Heilkräfte zugesprochen werden. Angeregt durch eine Pilgerwanderung seines Vaters, hatte er dabei gelobt: Wenn ich wieder gesund werde, reise ich nach Assisi. Der Psychologe und eine Ärztin, die seinen Kräfteschwund auf eine Ablagerung von Schwermetallen in der Leber zurückführte, begleiteten seinen Gesundungsprozess. Die Medikamente schlugen an. Jetzt, wo es mit der Gesundheit wieder bergauf ging, wollte Tobias sein Versprechen einlösen und im August 2015 in dreißig Tagen per Rad nach Assisi pilgern: über Konstanz, Basel, das französische Juragebirge, ab Lausanne auf der „Via Francigena“, über den Großen Sankt-Bernhard-Pass, Ivrea, durch die Po-Ebene, den Apennin, die Toskana.
Schon bald stieß er auf Schwierigkeiten: In Rheinfelden in der Schweiz fand er keine freie Unterkunft, so sehr er auch suchte. Dabei war er an dem Tag schon hundert Kilometer gefahren. Als er schon das Handtuch werfen wollte, fiel ihm ein Rat seiner Mutter ein: „Notfalls kannst du bei einem Pfarrhaus klingeln.“ Über Handy fand er eine Nummer, rief an, und erhielt zur Antwort: „Kein Problem! Nur: Sie müssen noch 20 Kilometer fahren!“ Das machte ihm nichts. Er war glücklich, dass ihn jemand aufnahm.
Es war brütend heiß. Tobias hatte sich mittags einen Döner gekauft und bei einer Schule durchgeschwitzt in den Schatten gesetzt, als jemand aus dem Gebäude auf ihn zukam. „Mist, der will mich vertreiben“, dachte er. Aber er täuschte sich: Der Mann erkundigte sich, was er denn so mache, und bot ihm an, die Dusche der Turnhalle zu benutzen.

Sankt Bernhard Pass. - Foto: privat

Sankt Bernhard Pass. – Foto: privat

„Im teuren Lausanne konnte ich bei großzügigen Leuten als Pilger für zwei Tafeln Schokolade übernachten.“ In Tromello in der Po-Ebene traf Tobias auf Carlo, „einen älteren Mann, der immer nach Pilgern Ausschau hält.“ Er gibt ihnen Wasser, kümmert sich liebevoll um sie, zeigt ihnen die Unterkunft. Am Abend nahm Carlo ihn zu einem Straßenfest mit. „Nicht extra für Touristen, sondern richtig mitten unter Italienern. Wann kann man so etwas schon mal erleben?“
Dann das Apennin-Gebirge. In einem abgelegenen Café unterhielt er sich mit einem Mädchen, das von einem USA-Aufenthalt träumt. „Ich konnte ihr den Tipp weitergeben, den ich von meinem Psychologen hatte: Unzufriedenheiten und Wünsche in ein Heft schreiben, genauer durchdenken, und wenn du das Gefühl hast, der Tag ist gekommen, das Heft öffnen und den Wunsch in die Tat umsetzen.“ In Carrara traf er einen Deutschen, der eine Lebensmittelvergiftung hatte. „Ich ging mit ihm zur Apotheke und half ihm, wieder auf die Beine zu kommen. Es war beglückend, dass ich etwas geben konnte, wo ich sonst nur immer empfangen hatte.“
In der Toskana haben ihn Architektur und kultureller Reichtum von Lucca, Siena, San Gimignano beeindruckt. „Da hat sich für mich der Blick für das Schöne wieder geöffnet und ein neuer Wissensdurst eingestellt.“ Tobias wunderte sich, welche Strecken und Anstrengungen er schaffte, wo er doch körperlich vorher am Ende gewesen war. „Irgendjemand wollte, dass ich das mache. Ich hatte immer mehr den Eindruck: Da ist jemand, der will, dass ich lebe!“
Unvergesslich die Begegnung mit einem Franziskaner im Kloster San Miniato: Ohne viele Worte machen zu können, fühlte er sich stark mit dem Mönch verbunden und spürte dessen engen Draht nach oben. Der Ordensmann schenkte ihm sein Franziskuskreuz. „Ich glaube, man darf ein schönes Erlebnis nicht festhalten wollen. Ich habe nichts erwartet und wurde immer neu beschenkt.“

Assisi, Stadt in Umbrien des heiligen Franziskus. - Foto: privat.

Assisi, Stadt in Umbrien des heiligen Franziskus. – Foto: privat.

Als endlich Assisi vor ihm auftauchte, spielte der Musikplayer auf dem Smartphone zufällig gerade einen seiner Lieblingssongs, „Another You“ von Armin von Buuren: Darin streift ein junger Mann nach der Trennung von seinem Mädchen ziellos herum und findet schließlich eine neue Liebe. Jede Zelle in ihm vibrierte in diesem Moment, im Herzen breitete sich eine unglaubliche Wärme aus. „Ich will wieder bei dir sein, Gott, bei Jesus“, kam ihm in den Sinn. Und er sprintete durch bis Assisi, was das Rad hergab.

Das war vor gut einem Jahr. Tobias fühlt sich freier, offener und hat seitdem in seinem Wohnort viele neue, interessante Leute kennengelernt. Seine Geschichte hat er Anfang August bei einer Jugendbegegnung der Fokolar-Bewegung erzählt, wo er sich „unfassbar wohlwollend“ aufgenommen fühlte. Für Ende September hat er den Arbeitsplatz gekündigt. Dann will er in Rottenburg bei Tübingen Erneuerbare Energien studieren. Bei der Jugendbegegnung hat er schon Kontakte zu anderen jungen Leuten in seiner neuen Umgebung geknüpft.
Clemens Behr

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September 2016)
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