16. Dezember 2016

Vertreten Sie nicht nur Ihre Wähler!

Von nst1

Offener Brief an den künftigen Bundespräsidenten von Österreich

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

noch sind wir ahnungslos, wer von Ihnen, Herr Van der Bellen und Herr Hofer, am 4. Dezember gewählt wird. Aber uns beschäftigt, wie es mit Österreich weitergeht. Und einer von Ihnen kann nun das Klima im Land und die Themen auf der politischen Agenda beeinflussen!
Erstmals stellen weder SPÖ noch ÖVP den Präsidenten. Im April hatten die Wähler die langjährigen Regierungsparteien abgestraft: zerstrittene Koalitions-„Partner“, die mehr auf den Misserfolg des anderen als auf den gemeinsamen Erfolg erpicht schienen. Das Ergebnis der Stichwahl zeigte, wie geteilt die politische Auffassung der Österreicher ist. Sie sind mit Entwicklungen konfrontiert, die die Gesellschaft emotional aufladen und ihre Spaltung zu vertiefen drohen: der Zuzug vieler Menschen aus Kriegsgebieten, ihre muslimische Kultur, die Sorge um Arbeitsplätze, die scheinbare Ohnmacht der Politik und eine immer stärker empfundene Bedrohung der Sicherheit.
Daraus ergeben sich Anforderungen an den Bundespräsidenten: Sie müssen die gesamte Bevölkerung vertreten, nicht nur den Teil, der Sie gewählt hat.
Das erfordert, parteipolitische Interessen zur Seite zu stellen. Sie haben eine Brückenfunktion, mit der Sie zur Einheit im Land beitragen können: Als ihr Repräsentant sind Sie für viele Bürger eine Vaterfigur, verkörpern Schutz. Sie erwarten von Ihnen als moralischer und menschlicher Instanz, die über der Regierung steht, dass Sie gerade in schwierigeren Zeiten mitreden und beraten. Wirken Sie darauf hin, dass die Regierung sich auf klare Ziele einigt und deren Umsetzung konsequent verfolgt; dass sie dabei die große Mehrheit der Bevölkerung berücksichtigt und ihre Politik nachvollziehbar erklärt. Von extremistischen, gerade rechtsradikalen Positionen sollten Sie sich ausdrücklich distanzieren.
Sie sind Repräsentant Österreichs nach außen. Mit einem Rückzug auf sich selbst ist dem Land nicht gedient. Bekennen Sie sich daher zur EU und arbeiten Sie mit daran, die Gemeinschaft in Europa zu verbessern.
Wir wünschen uns, dass Sie auch das Kleinräumige im Herzen haben. Politiker sollten nicht die falsche Erwartung schüren, sie seien die starken Männer, die alles richten können. Vielmehr sollten Sie die Menschen motivieren, zivilgesellschaftliche Mitverantwortung zu übernehmen. Tragen Sie bei, dass sie in Städten und Gemeinden parteiübergreifend bei Projekten, die allen zugute kommen, mitsprechen und mitwirken können. Ein besonderes Augenmerk auf junge Leute und gute Bildung legen, versteht sich fast von selbst.
Österreich ist vielfältig: Wie in allen Gesellschaften gehören Menschen unterschiedlicher Religionen, mit Krankheiten und Behinderungen, fortgeschrittenen Alters, in Notlagen und mit ausländischer Abstammung zu den 8,7 Millionen Einwohnern Österreichs. Sie können zu einem gesellschaftlichen Klima beitragen, das Vielfalt als Stärke versteht und nutzt, anstatt auszugrenzen.
In diesem Sinn wünschen wir Ihnen für die nächsten sechs Jahre eine glückliche Hand!

Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr,
Redaktion NEUE STADT

Unser offener Brief wendet sich an den künftigen Bundespräsidenten Österreichs. Am 4. Dezember stehen Alexander Van der Bellen, 72, und Norbert Hofer, 45, zur Wahl. Hofer ist Ingenieur für Flugtechnik, Kommunikations- und Verhaltenstrainer sowie für den Höheren Beamtendienst ausgebildet; seit 2006 ist er für die FPÖ im Nationalrat. Van der Bellen war von 1976 bis 1999 Professor für Volkswirtschaftslehre in Innsbruck und Wien und von 1997 bis 2008 Bundessprecher der Grünen.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Dezember 2016)
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