„Schönheit ist alles andere als glatt.“
Verweist Schönheit auf etwas Größeres, Höheres? Gibt es eine Sehnsucht nach Schönem in allen Menschen? Und wenn das so ist, warum empfinden Menschen so Unterschiedliches schön? Fragen an den evangelischen Theologieprofessor Thomas Popp aus Nürnberg.
Herr Popp, wie sind Sie zum Thema ‚Schönheit‘ gekommen?
Als ich noch sehr jung war, ging die Ehe meiner Eltern in die
Brüche. Mit vielen unschönen Begleiterscheinungen. Seitdem sehne ich mich sehr
nach Schönheit, einem Leben in Frieden, in Harmonie. Mit etwa 16 hat mich dann die
Frage bewegt: Wie lässt sich die Schönheit der Schöpfung bewahren? Ich stieß
auf Franz Alts Buch „Frieden ist möglich“. Es hat mich in seinen Bann gezogen und
bewogen, mehr in der Bibel zu lesen. Die intensive Bibellektüre hat mich dann
inspiriert, Theologie zu studieren. Einer meiner Hochschullehrer hatte als
Forschungsschwerpunkt „Schönheit im Alten Testament“. Die Schönheit der
biblischen Texte hat mich zunehmend angezogen – besonders das
Johannesevangelium, Martin Luther zufolge das „schöne Hauptevangelium“.
Und was ist Schönheit?
Für einen Nürnberger ist es naheliegend, Albrecht Dürer zu zitieren: „Was die Schönheit ist, weiß nur Gott.“
Schönheit kann sich auf die sinnlich wahrnehmbare äußere Gestalt von Mensch und Natur, Kunst- und Alltagsgegenständen beziehen, sogar auf mathematische Formeln, zugleich auf Haltungen wie Achtsamkeit und Anmut, also die innere oder moralische Schönheit. Im theologischen Diskurs wird auch die Schönheit Gottes thematisiert. Dazu kommen unterschiedliche ästhetische Vorlieben, die Menschen haben. Erst kürzlich hat der Neurologe und Schönheitsforscher Semir Zeki darauf verwiesen, dass es in der Philosophie seit 2500 Jahren kein einheitliches Verständnis von Schönheit gibt.
Erhellend ist die Etymologie: ‚Schön‘ kommt von der Wortgruppe ‚schauen‘ und bedeutet ursprünglich ‚gut anzusehen, wohlgefällig, bewundernswert‘. Gott sieht rückblickend sein Schöpfungskunstwerk als geglückt an: „Und siehe, es war sehr schön“ (1. Mose 1,31). Das hebräische Wort, das in aller Regel mit ‚gut‘ übersetzt wird, kann nämlich auch ‚schön‘ bedeuten. Wir sind demnach in den Augen Gottes ‚Sehenswürdigkeiten‘: würdig, im umfassenden Sinn gesehen zu werden, wahrgenommen und angenommen, erkannt und anerkannt, mit Ansehen versehen.
Zudem kann ich Schönheit mit meinen Sinnen wahrnehmen. Wenn ich jemand oder etwas als schön empfinde, sind meine Sinne angenehm berührt worden: Meine Augen durch eine schöne Gestalt, meine Ohren durch eine angenehme Stimme, meine Nase durch einen betörenden Duft. Schön ist, wenn ein Mensch in seiner Art und Weise ansprechend ist, er seine Arbeit achtsam macht, seine innere Haltung in entsprechenden Handlungen zum Ausdruck kommt.
Es gibt keine Definition, auf die sich bisher alle einigen konnten. Aber es gibt immerhin Kriterien, die in der Antike formuliert wurden und auch heute noch aktuell sind. Für Aristoteles sind die wesentlichen Kennzeichen des Schönen: Ordnung und Gleichmaß, griechisch ‚symmetria‘, und zwar in der äußeren Erscheinung und inneren Haltung. Das Geordnete, Harmonische, Heile ist also das Gute, Wahre, Schöne – verdichtet in der Kunst.
Im 18. Jahrhundert begründete Alexander Gottlieb Baumgarten
die philosophische Disziplin der Ästhetik. Schönheit wurde vor allem als
Ausdruck einer sinnlich bestimmten Subjektivität gesehen – im Sinn von:
„Schönheit liegt im Auge des Betrachters.“
Besteht ein Zusammenhang von Schönheit und Transzendenz?
Dieser Zusammenhang war für Plato, den Lehrer von Aristoteles, zentral: Er verankerte das Schöne im Kontext seiner Ideenlehre. Neben dem Wahren und Guten ist das Schöne eine wesentliche transzendente Größe. Vermittelt wird sie durch den Gott Eros. Er zeichnet für die Immanenz des transzendenten Schönen verantwortlich und bewirkt im Menschen das Streben nach dem Guten und Schönen. Das macht die Menschen zu Handelnden.
Durchaus vergleichbar: Im vierten Evangelium verkörpert Jesus
Christus den Himmel auf Erden, die Transzendenz in der Immanenz – in den Worten
des Prologs: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen
seine Herrlichkeit …“ (Johannes 1,14). Das griechische Wort, das Luther mit
‚Herrlichkeit‘ übersetzt, kann auch mit ‚Schönheit‘ wiedergegeben werden. Er
war als der Sohn schon vor aller Zeit an der sehr schön geschaffenen Schöpfung
beteiligt. Die Schönheit in Gestalt von liebenden und gerechten Beziehungen,
die das ganze Alte Testament vor Augen malt, ist auch ein entscheidendes
Kennzeichen des Lebens und Wirkens des menschgewordenen Gottes. Er
personifiziert nicht nur den guten, wahren und schönen Gott, sondern auch den
guten, wahren und schönen Menschen.
Gibt es in allen Menschen die Sehnsucht nach Schönheit?
Ja, davon gehe ich aus. Nach den Schöpfungserzählungen sind wir
von Gott dazu bestimmt, im Garten Eden zu leben. Dieser Ort vollendeter
Schönheit zeichnet sich ursprünglich durch ein geordnetes, harmonisches,
friedliches Miteinander von Gott, Mensch und Mitwelt aus. Der paradiesische
Frieden war allerdings zerbrechlich, störanfällig. Der Mensch überschreitet die
ihm gesetzte Grenze, verliert das Paradies, trägt aber die Sehnsucht nach
dieser verlorenen himmlischen Herkunft in sich. In Augenblicken des Friedens,
der Harmonie, der Schönheit blitzt das Paradies immer wieder auf. Im Neuen
Testament erfahren Menschen in der Begegnung mit Jesus solche paradiesischen
Augenblicke. Endgültig wird es aber erst in der Ewigkeit Wirklichkeit werden.
In der „Neuen Stadt“, der „heiligen Stadt“, dem „Neuen Jerusalem“ wird nach der
Offenbarung des Johannes Gott mit den Menschen zusammenwohnen. In dieser „Neuen
Stadt“ wird es wieder wunderschön sein, ohne Tränen, ohne Tod, ohne Geschrei,
ohne Schmerz, Gott sei Dank unzerbrechlich.
Die Sehnsucht haben alle, empfinden aber Unterschiedliches schön?
Einleuchtend finde ich Semir Zekis empirisch fundierten Erklärungsversuch: Was Menschen als schön empfinden, geht auf die Aktivität eines ganz bestimmten Teils des Hirns zurück. Je stärker das Schönheitserleben, umso mehr ist dieses Zentrum erregt. So wird messbar das individuelle Schönheitsempfinden geprägt, das wiederum in Wechselwirkung mit dem steht, was im eigenen kulturellen Kontext kollektiv als schön gilt. Dass das Schöne mit dem Durchschnittlichen zusammenhängt, wusste bereits Immanuel Kant. Er bezeichnete das als „ästhetische Normalidee“.
Semir Zeki unterscheidet zwischen biologisch und kulturell
bedingter Schönheit: Welche Kleidung, welche Gegenstände wir schön finden,
haben wir von unserer Mitwelt gelernt. Jede Kultur hat dabei ihre eigenen Normen.
Auf schöne Gesichter kann sich aber alle Welt einigen. Bereits Säuglinge
blicken drei Stunden nach ihrer Geburt ungewöhnlich lange auf Gesichter, die
auch allgemein als schön gelten. Das deutet auf angeborene Maßstäbe für
Schönheit hin.
Ist Schönheit mehr als Harmonie?
Schönheit heißt jedenfalls nicht zuletzt Harmonie. Das gilt
für äußere wie auch für innere Schönheit. Menschen, die Harmonie, Frieden
ausstrahlen, empfinden zumindest viele Menschen als schön. Harmonie hängt
wiederum mit Gerechtigkeit zusammen: Je gerechter Beziehungen sind, desto
harmonischer und friedlicher sind sie. Schönheit leidet daher unter
Ungerechtigkeit und setzt sich für Gerechtigkeit ein. In diesem Sinn ist für
die in Harvard lehrende Literaturwissenschaftlerin Elain Scarry die
Rehabilitation von Erfahrung von Schönheit ein wesentlicher Beitrag zu einer
gerechteren und besseren Gesellschaft. Sie deutet Fairness als Symmetrie der
Beziehungen zwischen den Menschen. Insofern ist der Einsatz für
Verteilungsgerechtigkeit ausgesprochen schön und gut; Schönheit hat so gesehen auch
eine eminent ethische und politische Dimension. Schönheit und Gerechtigkeit
sind gewissermaßen Geschwister. Sie gehören ursprünglich zusammen.
Und wie steht es dann mit Brüchen?
Schönheit ist alles andere als glatt. Ganz im Widerspruch zur neuzeitlichen Ästhetik mit ihrem Trend zur Selbstoptimierung. Das Glatte, also die optimierte Oberfläche ohne Negativität, wird immer mehr zum Wesensmerkmal des Schönen – so die scharfsinnige Analyse des Philosophen Byung-Chul Han. Zeitgeistkritisch ist für ihn die Gebrochenheit konstitutiv für das Schöne. Ohne sie verkümmert das Schöne zum Glatten. Marilyn Monroe hat es pointiert so formuliert: „Unvollkommenheit ist Schönheit … Und es ist besser, sich völlig lächerlich zu machen, als total langweilig zu sein.“ Dieser im positiven Sinn verrückten Schönheit wohnt eine zarte Zerbrechlichkeit inne.
Das ist anschlussfähig an die biblische Botschaft: Schönheit
setzt sich – darin wesensverwandt mit Liebe – nicht mit Gewalt durch. Das zeigt
am eindrücklichsten das in liebevoller Hingabe gelebte Leben von Jesus, der
personifizierten und am Kreuz gebrochenen göttlichen Schönheit. Sie ist stärker
als der Tod. Sie ist auferstanden und wirkt durch uns und Gott sei Dank auch
trotz uns in der Kraft des Heiligen Geistes. Die göttliche Schönheit ist auch
und gerade in der Zerbrechlichkeit und Schwachheit mächtig.
Ist Schönheit vergänglich?
Biologische Schönheit ja, auch kulturelle Schönheit. Göttliche
Schönheit und ihre menschliche Gestaltwerdung durch Liebe, Wahrheit,
Gerechtigkeit und Frieden werden dagegen für immer bestehen. So die biblischen
Texte vom Anfang bis zum Ende. Schöne Aussichten, die schon jetzt unser Leben
in aller Brüchigkeit beflügeln.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Gabi Ballweg
Thomas Popp,
1966, ist Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Ausbildungsleiter der Rummelsberger Diakoninnen und Diakone und Professor für Praktische Theologie (Schwerpunkt Diakonik) an der Evangelischen Hochschule Nürnberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören das Johannesevangelium und die Frage nach der Schönheit.
(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2019)
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