4. Dezember 2020

Schatzhüterin

Von nst5

Offener Brief an Lottie Cunningham Wren

Sehr geehrte Frau Cunningham!
Militante Siedler rauben alteingesessenen Familien das Land, vertreiben sie von ihrem angestammten Grund und Boden. Wer sich wehrt, muss um sein Leben fürchten. Anzeigen bei den staatlichen Behörden verlaufen im Sand. Angriffe auf Dörfer, niedergebrannte Häuser, Entführungen, Morde, Massaker: Zig Fälle in den letzten Jahren wurden nicht strafrechtlich verfolgt!
Von diesen Lebensbedingungen der indigenen Volksgruppen in Ihrem Land wissen wir in Europa nur wenig. Die Unterdrückung und die Verfolgung, die sie in vielen Ländern Lateinamerikas erleiden, sind für uns unvorstellbar. Sie kämpfen seit 25 Jahren in Nicaragua mutig und engagiert dafür, den Nachfahren der Urbevölkerung und den Bürgern mit afrikanischen Wurzeln Recht zu verschaffen. Dafür erhalten Sie am 3. Dezember einen der vier „Alternativen Nobelpreise“ der Right Livelihood Stiftung – zu Recht! Wir freuen uns für Sie und Ihr Team, dass damit Ihre aufopferungsvolle Arbeit gewürdigt wird!
Sie erleben täglich, dass Raubbau an der Umwelt und Armut Hand in Hand gehen:  Indigene Völker wie die Miskito haben eine enge Bindung an „Mutter Erde“. Wenn Wälder abgeholzt, Fischgründe verseucht, Anbauflächen gerodet werden, raubt ihnen das nicht nur ihre Existenzgrundlage, es entreißt ihnen auch die kulturellen Wurzeln.
Sie haben den Widerstand organisiert gegen den von einem Hongkonger Konsortium geplanten Bau des „Gran Canal“ zwischen Pazifik und Atlantik, eine für noch größere Containerschiffe ausgelegte Konkurrenz zum Panamakanal, die bedeutende Ökosysteme bedroht. Das gigantische Projekt, das die Gebiete der Indigenen durchschneiden würde, liegt derzeit wegen finanzieller Probleme auf Eis.
Ob es darum geht, die Rechte der Frauen zu stärken und Programme gegen häusliche Gewalt zu entwickeln oder der indigenen Jugend zu vermitteln, wie sie die Achtung der Menschenrechte einfordern und Menschenrechtsverletzungen bekannt machen können:Sie sind ein Beispiel dafür, dass sich mit fachlicher Kompetenz und Leidenschaft vieles erreichen lässt. Am „Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte“ in Costa Rica konnten Sie für die indigene Bevölkerung Nicaraguas Landrechte verankern, unter Berufung auf nationale und internationale Gesetze. Das brachte die Regierung dazu, endlich Grenzen festzulegen und zu bescheinigen. Eine Pionierarbeit, die auch andere indigene Gemeinschaften auf Sie schauen lässt: In vielen Teilen der Welt nutzen diese Ihre juristischen Strategien, um eigene Landrechte durchzusetzen.
Bei jenen, für die das Heimatland der ethnischen Gruppen bisher leichte Beute war, stößt Ihr Einsatz jedoch auf erbitterten Widerstand: Sie werden eingeschüchtert, mit dem Leben bedroht, sind einer Entführung nur knapp entkommen. Aber Sie verfolgen Ihre Ziele unbeirrt weiter: Wir können nur den Hut ziehen! Die Vielfalt der indigenen Völker, ihrer Sprachen und Kulturen, ihr unmittelbarer Bezug zur Natur und ihre Kenntnisse sind für die Menschheit ein unermesslicher Schatz. Wir wünschen Ihnen Kraft, Ausdauer und vielseitige Unterstützung im Kampf dafür, dass er nicht zerstört wird und unwiederbringlich verloren geht.
Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr,
Redaktion NEUE STADT

Foto: (c) Right Livelihood Foundation

Lottie Cunningham Wren
(61) stammt aus Bilwaskarma in Nicaragua. Sie ist eine von rund 125 000 Personen des indigenen Volkes der Miskito, von denen viele der Herrnhuter Brüdergemeine angehören. Nach einer Ausbildung zur Krankenschwester studierte sie Jura, um der indigenen Bevölkerung rechtlich beizustehen. Sie hat einen Doktorgrad in Rechtswissenschaften und arbeitet seit 1995 als Rechtsanwältin.
Nicaragua liegt in Zentralamerika zwischen Honduras und Costa Rica, Pazifik und Karibik. Der Staat ist mit 120 000 km2 fast so groß wie Österreich und die Schweiz zusammen und hat über 6 Millionen Einwohner.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November/Dezember 2020)
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