3. Dezember 2021

Ein Staat zerfällt – und niemanden interessiert es

Von nst5

Der Libanon ist im freien Fall –

politisch, wirtschaftlich, sozial. Schuld ist eine korrupte Elite – und viele – auch westliche – Staaten, die ihre Konflikte auf dem Rücken des Landes austragen.

„Wie schön, dass wir uns hören können! Mehr als 20 Minuten sind aber nicht möglich, sonst kostet das mein Notebook zu viel Akku. Und du weißt ja: Wir haben kaum Strom.“
Drei kurze Sätze, die so viel sagen. Ausgesprochen von meiner libanesischen Freundin Dounya während eines Zoom-Gespräches Mitte August. Was sie und ihre Freundin Micha mir in den dann folgenden 20 Minuten erzählten, lässt mich nicht mehr los.
Dreimal, 2007, 2011 und 2014, bin ich im Libanon gewesen, jenem Land also, das lange Zeit als „die Schweiz des Nahen Ostens“ bezeichnet wurde. Es war jedes Mal eine Begegnung mit einem ungewöhnlich schönen Land mit 7000-jähriger Kultur, großartiger Küche und – vor allem – warmherzigen, großzügigen und humorvollen Menschen. Und jedes Mal lernte ich auch etwas von den Wunden, den Widersprüchen und der Ohnmacht des Libanon kennen. Ein wenig glaubte ich mich auszukennen. Doch was ich jetzt von Micha und Dounya hörte, zeichnete ein noch viel dramatischeres Bild.
Im Schatten der großen Konflikte wie etwa in Syrien oder Afghanistan zerfällt ein Staat, und niemanden scheint es ernsthaft zu interessieren.
Die Regierung, das Parlament und der Präsident seien vor allem eines, so Dounya: korrupt. Jegliche Hilfe der internationalen Gemeinschaft in den vergangenen Jahren sei in die Taschen dieser Leute gegangen und nicht in die Bildung, das Gesundheitswesen, die Infrastruktur oder sonstige Institutionen des öffentlichen Lebens. Bestätigt wird Dounyas Aussage von Transparency International, einer Organisation, die sich der Korruptionsbekämpfung verschrieben hat. Auf deren Korruptions-Index landete der Libanon im vergangenen Jahr auf Platz 149 von 180 gelisteten Staaten und damit um zwölf Plätze tiefer als noch ein Jahr zuvor.
„Alle öffentlichen Institutionen und die Wirtschaft brechen gerade in sich zusammen. Das Land ist zahlungsunfähig. Wir können unsere Schulden nicht zurückzahlen. Sie betragen mehr als 80 Milliarden Euro“, so Dounya weiter. Das entspricht gut 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, einer der höchsten Werte weltweit.
Der Libanon ist zu allem Überfluss auch eines der am stärksten betroffenen Länder des Krieges in Syrien. Im Vergleich zur Einwohnerzahl hat der Libanon weltweit die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Die Zahl der syrischen Flüchtlinge wird auf 1,5 Millionen geschätzt. Hinzu kommen etwa 480 000 palästinensische Flüchtlinge, die seit Jahrzehnten im Libanon leben. Knapp 30 Prozent der Einwohner des Landes sind somit Flüchtlinge.

DIE KRISE IST GEWOLLT
Der Libanon leidet seit Monaten unter der schwersten Wirtschaftskrise seiner Geschichte, die zu einem dramatischen Versorgungsmangel geführt hat. Seine Währung, die Lira, hat in den vergangenen beiden Jahren 90 Prozent ihres Werts verloren. Immer wieder müssen die Tankstellen schließen, weil es an Treibstoff mangelt. Die meisten Libanesen müssen täglich stundenlang ohne Strom auskommen. Kliniken und Apotheken fehlt es an Medikamenten. Jetzt droht auch noch Wassermangel.

„Alle öffentlichen Institutionen und die Wirtschaft brechen gerade in sich zusammen.”
Illustration: (c) iStock (polygraphus, bearbeitet von elfgenpick)

Dounya arbeitet in der Leitung von Digital Opportunity Trust Lebanon, einem sozialen Unternehmen, das jungen Menschen Technologie-, Unternehmer- und Führungstrainingsprogramme anbietet. Sie erhebt schwere Vorwürfe: „Diese Situation ist von den Eliten gewollt. Sie wollen verhindern, dass wir nachdenken und dass wir uns auflehnen. Zwei Jahre lang gab es Proteste. Doch jetzt sind wir so mit dem Überleben beschäftigt, dass uns die Zeit und die Kraft fehlen, um zu demonstrieren und uns Gedanken zu machen, wie eine bessere Zukunft aussehen könnte. Wir sind Geiseln unserer Regierung. Wir wollen diese Politiker nicht, können aber nichts machen.“
Zur gleichen Einschätzung ist der maronitische Patriarch Kardinal Bechara Rai gekommen. Zu den politisch Verantwortlichen im Libanon sagte der höchste Repräsentant der größten christlichen Konfession im Libanon Ende August: „Wir verurteilen Ihr Engagement, den libanesischen Staat zu liquidieren: sein System, seinen Pakt, seine historische Rolle und seine menschliche Botschaft.“
Die internationale Gemeinschaft, so Dounya, könne und müsse den Wandel der politischen Szenerie des Landes nachdrücklich unterstützen. Sie müsse die korrupte Elite des Landes zur Aufgabe bewegen. „Sie könnten es ohne Weiteres. In der Vergangenheit habe sie doch – in anderen Ländern – Wege gefunden, genau das zu tun. Worauf warten sie noch?“
„Ich habe nicht den Eindruck, dass jemand helfen möchte. Niemand interessiert sich für den Libanon“, wendet Micha an dieser Stelle ein. Die zweifache Mutter forscht und unterrichtet an der Abteilung für Heilpädagogik am „Libanesischen Institut für Erzieherinnen und Erzieher“ an der St.-Josephs-Universität in der Hauptstadt Beirut. „Alle warten, welche neuen Allianzen sich in der Region bilden.“

IM ÜBERLEBENSMODUS
Seit Jahrzehnten ist der Libanon Schauplatz für die Interessenskonflikte vieler Nationen: regionaler Mächte wie Saudi-Arabien, Iran, Israel, Syrien und der Türkei, aber auch westlicher Staaten wie den USA und Frankreich. Spätestens seit die Palästinensische Befreiungsorganisation 1970 ihr Hauptquartier von Jordanien in den Libanon verlegt hat, spiegelt sich die ganze Verworrenheit des Nahostkonflikts hier wie in Miniatur wider. Dass immer wieder Gruppen im Libanon sich auf die eine oder andere Seite schlugen, hat die Situation nur erschwert.
In diese ohnehin schwierige Ausgangslage kamen die Corona-Pandemie und die verheerende Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020. Die Proteste vieler Libanesen zwangen die Regierung zurückzutreten. Es dauerte fast 14 Monate, bis eine neue gebildet und schließlich am 20. September 2021 vom Parlament bestätigt werden konnte. Große Hoffnung auf Veränderung verbinden Dounya und Micha und mit ihnen viele Libanesinnen und Libanesen allerdings nicht mit dieser Entwicklung. Viel zu viele „alte“ Gesichter finden sich in ihr.
„Es ist verrückt, was wir leben. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Im Augenblick ist es ein Weiterleben Tag für Tag – kochen, mit den Kindern spielen, … Jeder Tag ist ein Kampf – um Medikamente, um Benzin, um Lebensmittel. Es ist nicht möglich, über den Tag hinaus zu denken. Das Überleben kostet alle Kraft“, beschreibt Micha ihre Lebenssituation.
Dounya ergänzt: „Wir können nicht planen. Es ist schön, von Tag zu Tag zu leben, wenn man ein sicheres Leben führen kann; aber nicht, wenn man im Überlebensmodus ist. Überleben aber ist kein Leben. We are created to create. Wir sind geschaffen, um selbst zu erschaffen!“
Verstehen Sie, dass mich dieses kurze Gespräch bis heute nicht loslässt?
Peter Forst

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November/Dezember 2021)
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