2. Dezember 2021

„Wo ich bin, ist vorne!“

Von nst5

Dominante Menschen

können eine Beziehung oder einen Freundeskreis belasten oder gar sprengen. Das Problem: Sie bemerken oft nicht, wie sehr sie das Zusammenleben erschweren. Können sie lernen, ihre Wirkung zu erkennen? Wie sollen sich die anderen ihnen gegenüber verhalten?

Antonella Ritacco
Psychologin, Gengenbach
Dominante, kontrollierende Menschen neigen dazu, sich mit Menschen zu umgeben, die sich ihnen unterordnen, und sind daher nur selten in der Lage, die Auswirkungen ihres Verhaltens zu erkennen. Solange die anderen in der Beziehung zu ihnen eine ergänzende, passive Rolle einnehmen, müssen sie sich nicht infrage stellen und haben keinen Anreiz zu bedenken, was sie in anderen bewirken. Erst wenn der Partner, die Freunde, die Mitarbeiter aufhören, unkritisch nachgiebig zu sein, wird die Person über sich selbst und die Tatsache nachdenken können, dass ihr dominantes Verhalten andere abstößt, statt Beziehungen aufzubauen.
Wie man sich verhält, hängt vom Grad der Dominanz ab sowie der Frage, ob gleichzeitig eine narzisstische Persönlichkeitsstörung vorliegt oder die Person einen cholerischen oder gewalttätigen Charakter hat. Auf jeden Fall sollte man vermeiden, in die Falle der Unterwerfung zu tappen, aber auch nicht impulsiv reagieren, sondern sich auf das Wesentliche in der jeweiligen Situation (Beziehung, Arbeit, Vorfall) konzentrieren. Anders verhält es sich, wenn die dominante Person gewalttätig, missbräuchlich oder ein Stalker ist. In diesem Fall ist es unbedingt notwendig, auf Abstand zu gehen, den Kontakt abzubrechen und sich zu schützen.

Udo Stenz
kath. Seelsorger, Ludwigshafen
Bei der Begleitung von Menschen in der Seelsorge ist diese Herausforderung im Licht von Liebe und Wertschätzung zu sehen – freilich mit der besonderen Spannung, dass alle geliebt und wertgeschätzt werden sollen. Hilfreich ist dabei jemand, der oder die die gesamte Situation im Blick hat und sie behutsam steuert.
Das sprichwörtliche Patentrezept gibt es auch hier leider nicht; doch drei Gedanken können weiterhelfen: Zunächst gilt es, den Blick zu weiten und zu sehen: Jeder Augenblick, jede Eigenart eines Menschen ist immer auch Ausdruck, Ergebnis und Momentaufnahme einer persönlichen Geschichte mit Gott und getragen von Gottes Liebe und Wertschätzung.
Des Weiteren bedarf es – zweitens – eines großen Herzens: Alles, was zu sagen oder zu tun ist, durchaus auch mit den klugen Methoden der einschlägigen Disziplinen, muss aus Liebe geschehen. Das ist nicht immer leicht; doch was wirklich zutiefst aus Liebe geschieht, darf auch eine Zumutung sein. Und so bedarf es – drittens – der Geduld. Es braucht Zeit und daher einen langen Atem. Die Geduld hilft uns zu vertrauen, dass eine Momentaufnahme nicht bleibt, sondern hineingenommen ist in einen Weg, der gegangen werden kann und vielleicht zum Ziel führt.

Susanne und Michael Wild
Paartherapeuten, Obergriesbach
Ein Paar kommt zu uns in die Therapie. Beide Mitte 50, Kinder aus dem Haus. Er hat viel erreicht, beruflich und privat; ein großes Haus mit Garten, drei Autos, regelmäßige Reisen in die ganze Welt. Und er hat noch viel vor! Sein Ziel für die nächsten Jahre: Privatier werden, eine Finca auf Mallorca erwerben und umbauen. „Auch für dich, Schatz!“
Klingt verlockend, wären da nicht die genervten Blicke seiner Frau. „Wir haben doch schon alles. Können wir nicht einfach genießen, was wir haben? Ich möchte nicht an Ruhestand denken; nach der langen Familienphase habe ich endlich wieder beruflich Fuß gefasst.“
Es zeigt sich schnell: Lange Zeit war gut, dass er der Starke war, das Tempo vorgegeben hat. Sie konnte sich mit den Kindern bei ihm sicher fühlen. Doch jetzt gelten andere Vorzeichen. Sicherheit wandelt sich in Bevormundung, Vorankommen wird zur Belastung.
Ein paar Sitzungen später haben sie vereinbart, Folgendes auszuprobieren:

  • Wir entwickeln Dinge gemeinsam und setzen sie miteinander um.
  • Er: Ich versuche mal, etwas nur dir zuliebe zu tun.
  • Sie: Ich höre auf zu kritisieren und würdige, was gut bei mir ankommt.
  • Wir vereinbaren ein Stopp-Signal, wenn die Situation zu kippen droht.
  • Er: Ich versuche einen respektvolleren Umgangston zu finden.

Ein Entwicklungsprozess kommt in Gang.

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(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November/Dezember 2021)
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