2. Dezember 2021

„Im Anderen das Eigene entdecken“

Von nst5

Beziehung verändert und erschließt neue Denkhorizonte.

Aus dieser Erfahrung lebte eine wissenschaftliche Tagung an der Universität in Innsbruck, die Christen, Muslime und Marxisten gestalteten.

Es war ein „Studienseminar“ – mit ungewöhnlich hoher Beteiligung: 100 Personen live vor Ort, geschätzt 150 bis 170 weitere an 100 digitalen Endgeräten vorwiegend in deutschsprachigen und europäischen Ländern, aber auch in Marokko, Algerien, Peru, Jerusalem und Haifa.
Es war eine akademische Tagung in historisch bedeutsamem Ambiente – und überraschend familiärer Atmosphäre.
Es ging um die Vertiefung eines christlichen Charismas – mit anregenden, teilweise herausfordernden Beiträgen nicht nur von christlichen Theologen, sondern ebenso von Muslimen, Marxisten, Physikern.
Es ging um Wissenschaft, um weite Denkhorizonte und tiefe Mystik – und um jahrzehntelange Weggemeinschaft, die zu echter Freundschaft und gegenseitiger Bereicherung wurde.
Die Rede ist von einer Tagung, die vom 9. bis 11. September im prächtigen Kaiser-Leopold-Saal der Universität Innsbruck stattfand und zu der die Theologische Fakultät zusammen mit der Fokolar-Bewegung eingeladen hatte.

Alle Fotos: (c) Nico Tros

„Alle Blumen (be)achten“ lautete der eher ungewöhnliche Titel. Er bezog sich auf die Anfangszeile eines Textes von Chiara Lubich und verwies auf das  „Charisma der Einheit“, das die Gründerin der Fokolar-Bewegung in Kirche und Welt eingebracht hat. Der Text stammt aus dem Sommer 1949, einer Zeit, die in der Bewegung auch als „Paradies ’49“ bekannt ist. Die Ferienwochen in den Trientner Dolomiten wurden für Chiara Lubich und einige ihrer Gefährtinnen zu einer tiefen mystischen Erfahrung, zu einer unmittelbaren Gottesbegegnung. Die Einsichten daraus haben die entstehende Bewegung entscheidend geprägt.
Den Text, der in einer poetischen, nicht leicht verständlichen Sprache verfasst ist, hatten die Veranstalter um den Theologieprofessor Roman Siebenrock nicht zufällig ausgewählt. In den vergangenen Jahren hatte sich eine Gruppe von christlichen und muslimischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit diesem Text beschäftigt, ihn meditiert, studiert und reflektiert.

Die Gruppe ist seit zehn Jahren gemeinsam unterwegs. Damals hatte die Innsbrucker Fokolargemeinschaft – unter ihnen auch Johannes Vetter – die Notwendigkeit gespürt, sich im christlich-muslimischen Dialog zu schulen. Theologieprofessor Roman Siebenrock war sofort eingestiegen. Und Johannes Vetter hatte das Zentrum für interreligiösen Dialog der Fokolar-Bewegung gebeten, Kontakte zu muslimischen Theologinnen und Theologen zu vermitteln. Zwei, die in Rom an Unis lehren, waren gekommen: die Iranerin Shahrzad Houshmand und der Tunesier Adnane Mokrani. Ihre erste Begegnung war für die Wissenschaftler beider Religionen so bereichernd, dass sie beschlossen, sie fortzuführen. Ganz bewusst wollten sie dazu Johannes Vetter und andere Fokolare mit im Boot haben: Das Charisma der Einheit hatten sie als raumschaffend, grundlegend, unersetzlich für ihr Zusammensein erfahren.
Zehn Jahre theologischer Austausch, mehr noch: zehn Jahre tiefe Weggemeinschaft, in der sie erlebten, wie sehr Leben und Reflektion, Spiritualität und Theologie sich gegenseitig bereichern. Zum Gedenken an den 100. Geburtstag von Chiara Lubich im vergangenen Jahr wollten sie ihre Erfahrung und ihre Denkhorizonte in einem universitären Umfeld zum Klingen bringen. Deshalb diese Studientagung, die corona-bedingt erst jetzt stattfinden konnte.

Dieser christlich-muslimischen Gruppe gesellte sich im Lauf der Vorbereitung ein zweite hinzu, die sich aus demselben Geist nährt: eine christlich-marxistische Dialoginitiative. Sie geht auf eine über zwanzigjährige Freundschaft zurück: zwischen dem Christen und Architekten Franz Kronreif und Walter Baier von der Kommunistischen Partei Österreichs und dem europäischen Netzwerk „transform! Europe“ aus 27 linken Forschungs- und Bildungseinrichtungen. Beide verbindet die Leidenschaft für eine bessere Welt. Nach und nach kamen weitere Freunde hinzu: Marxisten, Atheisten, Christen. Wie etwa der russische Atheist Iuri Pismak, ein bekannter Quantenphysiker. Auch ihre Dialog-Erfahrung floss in den Innsbrucker Kongress ein – was das Spektrum der Beiträge weiter, in gewisser Weise faszinierender, aber für die Teilnehmenden auch herausfordernder machte. Sicher konnten nicht alle jeden Beitrag – egal ob es dabei um Mystik, muslimische und christliche Theologie, Quantenphysik oder gesellschaftspolitische Inspirationen ging – in aller Tiefe und Fülle erfassen. Manches war auch mühsam. Es war jedoch faszinierend, an diesen außergewöhnlichen Weggemeinschaften teilzuhaben. Dass diese verändern und prägen, dass sie nicht nur bereichern, sondern bisweilen auch anstrengen und herausfordern, dass sie keinen daran Beteiligten unverändert lassen, das konnte man spüren und teilweise auch selbst erleben.

So empfanden sicher viele Freunde und Angehörige der Bewegung das eine oder andere aus den Vorträgen als Anfrage, vielleicht sogar als Infragestellung einer bis dahin selbstverständlich wahrgenommenen „Wahrheit“ ihres „Ideals“. Dialog verändert. Und wer das „Störende“ als Anstoß begriff, das Eigene mehr und besser zu reflektieren, kann auf diesem Weg vielleicht sogar noch tiefere Wurzeln darin schlagen.
Tatsächlich hatten einige den Eindruck, dass sie das Charisma von Chiara Lubich durch die bunte Referentenschar und ihre unterschiedlichen Denkhorizonte noch einmal neu geschenkt bekamen. So gab es vielen zu denken, wie gründlich sich gerade Marxisten mit den Schriften und Impulsen von Papst Franziskus für eine bessere und gerechtere Welt auseinandergesetzt haben.

„Der Beitrag des Charismas der Einheit von Chiara Lubich für den Dialog zwischen Menschen verschiedener Religionen und Weltanschauungen für die Gesellschaft von heute.“ So lautete der Untertitel der Tagung. Eines wurde deutlich: Diesen Beitrag zu fassen, geht nicht eindimensional. Er ist ein Zusammenspiel von Leben und Denken. Sicher auch eine Einladung zu einem konsequenten Blickwechsel – zu dem der zugrunde liegende Text einlädt: Auf die andere, den anderen schauen heißt, sie, ihn zu erkennen. Ein solch offener Blick „schenkt Leben und lässt dich das Beste aus dir selbst herausholen, lässt den Christen einen besseren Christen und den Muslimen einen besseren Muslimen sein“, wie der muslimische Theologe Adnane Mokrani formulierte. Ein offener, wertschätzender Blick aufeinander schafft Beziehungen, Freundschaften, und die sind die Grundlage für das „Vertrauen, dass der Andere sich im Eigenen wiederfindet“, wie Cornelia Hildebrandt von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin unterstrich.

„Die Praxis der Vielfalt ist spannender als die Texte.“ So hatte der Dekan der Universität in seinem Grußwort zu Beginn formuliert. Wie recht er damit hatte, hat sich vielen im Lauf der Tagung erschlossen. Und so manchem schien es durchaus bedeutungsvoll, dass sie genau an der Uni ihren Platz hatte, an der Karl Rahner viele Jahre gelehrt hatte. Dem Jesuiten war ja gerade die Verbindung von theologischer Tradition und dem Denken der Moderne ein zentrales Anliegen.
Gabi Ballweg

„ALLE BLUMEN (BE)ACHTEN“
Chiara Lubich, Sommer 1949 (Auszüge):
Von uns verlangt Gott, dass wir auf alle Blumen schauen, weil er in allen ist; nur so liebt man mehr ihn als die einzelnen Blumen.
Gott, der in mir lebt, der meine Seele geformt hat und darin als der Dreifaltige wohnt (…), lebt auch in den Brüdern und Schwestern.
Es ist daher nicht einsichtig, ihn nur in mir zu lieben. Täte ich das, hätte meine Liebe etwas Selbstbezogenes, Egoistisches an sich: Ich würde Gott in mir lieben und nicht Gott in Gott (weil er Einheit und Trinität ist).
Also ist mein Himmel, wie wir sagen – meine Zelle, wie es Menschen sagen, die einen vertrauten Umgang mit Gott haben – in mir und genauso wie in mir in den Brüdern und Schwestern. Wie ich Gott in mir liebe, indem ich mich in meinem Himmel sammle – wenn ich allein bin – so liebe ich ihn im Mitmenschen neben mir.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November/Dezember 2021)
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