5. Oktober 2022

Priester sind keine Junggesellen

Von nst5

Gemeinschaft zu leben und zu fördern

ist Paul Christian wichtig – auch im Ruhestand.

Foto: (c) Dorothee Wanzek

Priester zu sein, heißt für Paul Christian, Gemeinschaft zu leben. „Gott will nicht, dass wir Priester Junggesellen sind, die für sich alleine rumhängen“, ist er überzeugt. In den sechzig Jahren, die seit seiner Priesterweihe vergangen sind, ist er für viele ein Freund geworden. In den Gemeinden, für die er verantwortlich war, hat er Zeit und Fantasie dafür eingesetzt, dass Kontakte und gegenseitige Fürsorge wachsen konnten. Es ist ihm wichtig, dass Christen nicht nur für die Gottesdienstfeier zueinanderfinden, sondern dass sie ein Netzwerk lebendiger Beziehungen bilden, das anziehend wirkt und über das katholische Milieu hinaus strahlt. Mit anderen Priestern in freundschaftlicher Verbindung zu sein, hält er dabei für grundlegend. 
1960, im achten Semester seines Theologiestudiums in Erfurt, hatten Fokolare ihn und andere angehende Priester aus der DDR erstmals nach Westberlin eingeladen. Ihn beeindruckte, was sie von ihrem gemeinschaftlichen christlichen Leben in Italien erzählten. Zum Beispiel gefiel ihm der Gedanke, sein Herz zu weiten, indem man sich nicht nur denen zuwendet, die einem auf Anhieb sympathisch sind. Schon bald schloss er sich einer Gruppe Erfurter Seminaristen an, die im gleichen Geist leben wollten. Sie trafen sich regelmäßig, um sich darüber auszutauschen, wie sie das „Wort des Lebens“ mit ihrem Alltag verknüpfen. „Wir wollten Jesus in unserer Mitte Raum geben. Gemeinsam suchten wir danach, wozu er uns in unserem Leben leitet“, erinnert sich Paul Christian. So erfüllt war er von diesem Lebensstil, dass er sich oft dazu zwingen musste, seinen Studien die notwendige Zeit einzuräumen.
Die erste Vikarsstelle, die er nach der Priesterweihe 1962 angeboten bekam, empfand er als „großes Glück“. Das Zusammenleben mit dem humorvollen Pfarrer, einem schon erfahrenen Vikar und der Haushälterin vergleicht er mit einer wohltuenden Familie. Als junger Priester erlebte er hier nicht nur eine Arbeitsbeziehung oder schlichtes Versorgt-Sein, sondern eine Tischgemeinschaft mit lebhaftem Interesse aneinander. Freudiges und Schwieriges konnte er mit den Kollegen teilen. Sie rückten ihm auch den Kopf zurecht, wenn er wieder einmal seine Aufbaustudien vernachlässigte, mit denen ihn sein Bischof beauftragt hatte. 
An seinen späteren Wirkungsstätten knüpfte er an vieles an, was er an dieser Pfarrhaus-Lebensgemeinschaft „einfach himmlisch“ fand. Gerade in schwierigen Situationen setzte er alle Kraft daran, Gemeinschaft zu befördern. Als er 1971 die Leitung des Priesterseminars auf der Huysburg bei Halberstadt im Harz übernahm, befand sich die Einrichtung gerade in einer Zerreißprobe, hervorgerufen durch Konflikte, die sich an den Aussagen zur Empfängnisverhütung in der Enzyklika Humanae Vitae von Papst Paul VI. entzündet hatten. Paul Christian bemühte sich um gute Kontakte zu allen, egal, welche Position sie vertraten. „Den angehenden Priestern habe ich immer eingeschärft: Haltet zusammen!“, erzählt er. Die wöchentlichen Treffen mit anderen Priestern der Fokolar-Bewegung waren ihm in dieser Zeit besonders kostbar, trotz stundenlanger Anfahrten und trotz des Unmuts, den seine lange Abwesenheit zuweilen im Seminar hervorrief. Auch seinen Urlaub verbrachte er mit anderen Priestern, die zur Fokolar-Bewegung gehören, sogenannten Fokolarpriestern. Häufig nutzten sie die Erholungszeit, um Kollegen in der Tschechoslowakei zu besuchen. Auch dort hatte die Fokolar-Bewegung – unter weitaus schwierigeren Bedingungen als in der DDR – Fuß gefasst. 

Paul Christian 1981 im Gespräch mit Natalia Dallapiccola. – Foto: privat

1991 begann eine neue Lebensetappe für Paul Christian – das Altwerden in Gemeinschaft. Damals zog Johannes Aßmann als Ruheständler zu ihm auf die Huysburg. Paul Christian beobachtete mit Freude, wie sich der erfahrene Pfarrer, der sich durch einen markanten Charakter auszeichnete, zurücknahm. Er stand ihm hilfreich zur Seite und hatte Freude an seinen neuen Aufgaben. Nach der Auflösung des Priesterseminars begleitete Johannes Aßmann ihn an die beiden Pfarrstellen, die er noch innehatte, bevor er 2006 selbst den Ruhestand antrat. Nach einiger Zeit stieß Günter Madeja hinzu, ein weiterer Ruheständler, der sich durch seine kluge, zurückhaltende Art und seine Fähigkeit zu vermitteln auszeichnete. In Lutherstadt Wittenberg, der letzten Pfarrstelle, konnten die drei nacheinander mehreren Vikaren ein Zuhause bieten, wie Paul Christian es in seiner ersten Vikarsstelle vorgefunden hatte. Die jungen Priester erlebten auch die intensiven ökumenischen Kontakte der Älteren, und sie konnten beobachten, wie die sich als Fokolare zurücknahmen, um die in der Pfarrei beheimatete Schönstattbewegung zu unterstützen. Nach zehn Jahren, als auch Pfarrer Christian aus dem aktiven Priesterdienst ausschied, beschlossen die Ruheständler, nach Zwochau bei Leipzig zu ziehen, in ein ungenutztes Pfarrhaus im dortigen Begegnungszentrum der Fokolare. Kurz zuvor starb Günter Madeja plötzlich. Paul Christian zog allein mit dem inzwischen hoch betagten und pflegebedürftigen Johannes Aßmann um. Ein halbes Jahr verbrachten die beiden bis zu dessen Tod noch gemeinsam in Zwochau, unterstützt von einer Nichte Paul Christians, die bis heute den Haushalt führt, und von einem ambulanten Pflegedienst. „Die Krankenschwester fuhr ihn manchmal im Rollstuhl aus, weil sie ihn so gerne erzählen hörte“, erinnert sich Paul Christian. Er unterstützt mit seinen priesterlichen Diensten bis heute die Fokolargemeinschaft in Zwochau und tut in dem 1000-Einwohner-Dorf ansonsten, was er sein Leben lang getan hat: Gemeinschaft befördern, Kontakte aufbauen zu Nachbarn, Vereinen, zur evangelischen Ortsgemeinde und zu Mitbürgern, denen der christliche Glaube fern ist. Ihnen gelten seine besondere Liebe und Wertschätzung.

1978. – Foto: privat

Drei weitere Ruhestandspriester hat er inzwischen aufgenommen und in ihrer letzten Lebensphase begleitet. Das Zusammenleben gestaltete sich unterschiedlich, je nach Charakter, Teamerfahrung und Kommunikationsfähigkeit der Mitbewohner. Einer der Priester lebte in einer separaten Wohnung, bevor er pflegebedürftig wurde, weil die Kontroversen zu groß schienen. „Ähnlich wie in einer Ehe kommen nach einiger Zeit Schichten zum Vorschein, bei der jeder einige Sprünge machen muss“, beschreibt Paul Christian die Gemeinschaftserfahrung der alternden Priester. Er blickt mit Hochachtung auf erfahrene Ehepaare. Von ihnen hat er gelernt, geduldiger mit seinen Mitbewohnern umzugehen und sich darauf einzustellen, dass man die „unattraktiven“ Eigenschaften seines Gegenübers nicht ändern kann. „Wenn ich das akzeptiert habe, wird es einfacher“, hat sich ihm immer wieder bestätigt.
Hilfreich findet er zudem, sich in die Schwächen der anderen einzufühlen und über sich selbst und die eigenen Bedürfnisse hinauszusehen. „Wenn es schwierig wird, bete ich viel für die anderen um den Heiligen Geist, und ich versuche, das Positive in ihnen zu finden. Gleichzeitig versuche ich, von meinem Thron herabzusteigen und einen realistischen Blick auf meine eigenen Fehler zu werfen. Klar, dass das immer nur teilweise gelingt“, gesteht er ein. 
Für einen seiner Mitbewohner, der nach einem Schlaganfall teilweise gelähmt war, hat er sein Bad rollstuhlgerecht umbauen lassen. Von Pflegekräften hat er inzwischen manches abgeguckt. Wenn Hilfe erforderlich und keine Fachkraft zur Stelle ist, packt er selbst an. Er weiß, wie er einen Patienten beim Umziehen einbeziehen kann oder wie er ihn umbetten muss, ohne sich selbst dabei zu überheben. 
„Ich habe ein kleines Helfersyndrom und kann nur schwer an leidenden Menschen vorübergehen“, vermutet Paul Christian. Den alt werdenden Mitbrüdern beizustehen, falle ihm deshalb nicht schwer, sondern sei ihm ein inneres Bedürfnis. Dabei ist es um seine eigene Gesundheit nicht zum Besten bestellt. Sein Arzt hat dem 86-Jährigen schon vor einigen Jahren klargemacht, dass er wegen seines Bluthochdrucks jederzeit mit seinem plötzlichen Tod zu rechnen habe. 
Freunde, Bekannte und Gäste der Zwochauer Fokolargemeinschaft äußern sich oft beeindruckt von dem Zusammenhalt der Priestergemeinschaft, die sich trotz aller Unterschiede in der spirituellen Prägung und Persönlichkeit über Krankheiten, Demenz und andere alterstypische Beschwerden hinweg gegenseitig tragen. Viele kennen Priester, die im Alter unter Einsamkeit leiden. Für manche allein lebende Geistliche sind die Zwochauer Ruheständler eine Anlaufstelle. Alle zwei Monate laden sie Ruhestandspriester und -diakone der Region zu einem Vormittag mit Frühstück, Gottesdienst und Austausch ein. 

Paul Christian, Walter Richter, Bernhard Sendler. – Foto: (c) Dorothee Wanzek

Nachdem kurz aufeinander zwei seiner Mitbewohner gestorben waren, lebt seit einem guten Jahr Bernhard Sendler bei Paul Christian, ein noch rüstiger Ruheständler, der sich bereits seit einigen Jahren innerlich darauf eingestimmt hatte, nach Zwochau zu ziehen. Als Fokolarpriester stand er schon vorher in engem Austausch mit den dortigen Priestern, hat abends per Telefonkonferenz mit ihnen gebetet und war einmal in der Woche dort zu Gast – so wie jetzt noch Walter Richter, der montags aus der 25 Kilometer entfernten Stadt Halle/Saale hinzustößt. Bernhard Sendler hatte sich auf den intensiveren Kontakt gefreut, darauf, in einer größeren Gemeinschaft auch im Alter als Priester noch gebraucht zu werden. Er hatte sich aber auch auf Schwierigkeiten eingestellt. Besonders schwer fällt es ihm, sich erstmals in seiner Pfarrerlaufbahn auf die Unterstützung durch eine Haushälterin einzulassen: „Ich wollte von jung an auf gar keinen Fall einer dieser Priester werden, die sich bedienen lassen“, erklärt der gelernte Werkzeugmacher.
„Gemeinschaft kostet ihren Preis“, ist Walter Richter überzeugt. Je älter man werde, desto weniger könne man davon ausgehen, dass andere einen wirklich verstehen. „Wir werden immer einmaliger. Das sage ich auch mir selbst immer wieder“, verrät er. „Im Zweifelsfall ist, was uns verbindet, stärker als das, was uns durch unsere Schrullen und unterschiedlichen Lebensverhältnisse trennt“, glaubt er. Was zähle, sei die Bereitschaft, sich millimeterweise zu wandeln. Wenn es wirklich gelinge, auch im Alter einen Schritt über sich hinaus zu wagen, sei das ein großes Geschenk. 
Auch wenn er seine Mitstreiter nur sporadisch sehe, treffe er viele Entscheidungen in seinem Alltag im Blick auf die anderen, zum Beispiel auch im verantwortungsvollen Umgang mit seinem Geld. „Manchmal frage ich mich: Was würden Paul oder Bernhard in dieser Situation entscheiden oder tun?“, sagt der 81-Jährige, der sich ehrenamtlich in einem Hospiz engagiert. Die Gemeinschaft trage ihn auch auf Entfernung.
Paul Christian ist das Gebet anderer Priester eine Stütze, die immer wichtiger wird, je mehr das Leistungsvermögen schwindet. Täglich beten Bernhard und er die Laudes und Vesper per Telefon mit Walter und einem weiteren Priester im Pflegeheim.
Paul verfolgt das Leben der Fokolarpriester in Deutschland, Österreich und der Schweiz und hält Kontakt mit vielen von ihnen. Es sei wertvoll, immer über die kleine Zwochauer Gemeinschaft hinauszublicken und sein Herz für die jüngeren Priester und für eine noch größere Vielfalt zu öffnen.
Dorothee Wanzek

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2022)
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