3. Februar 2023

Freiheit schätzen und schützen

Von nst5

Freiheit ist nicht gerade das Erste,

was man mit dem Christentum in Verbindung bringt. Schade.

Kennen Sie das? Da sagt jemand in einem Gespräch einen Satz, der einen nicht mehr loslässt – auch Wochen später nicht. Möglicherweise hat die Person, die ihn ausgesprochen hat, ihn längst vergessen. Aber beim Empfänger, der Empfängerin klingt er nach. Einen solchen Satz gab es für mich im Interview für diese Ausgabe. Er kam von Petra Bahr, Regionalbischöfin von Hannover, und lautete: „Gerade kirchliche Leute neigen dazu, die Verantwortung so stark zu betonen, dass von der Freiheit nicht mehr viel übrigbleibt.“
Es ist doch tatsächlich so: Freiheit ist nicht gerade das Erste, was man mit dem Christentum in Verbindung bringt. Und das ist wirklich schade! Denn eigentlich ist es doch ganz anders: Für seinen Freiheitsbegriff muss das Christentum sich wahrlich nicht schämen. Denken wir nur an einige Aussagen der Bibel. Da schreibt Paulus an die Gemeinde in Galizien: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Steht daher fest und lasst euch nicht wieder ein Joch der Knechtschaft auflegen!“ (Galater 5,1) Oder wieder Paulus, diesmal an die Gemeinde in Korinth: „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“ (2 Korinther 3,17) Und im Johannesevangelium heißt es: „Wenn euch der Sohn befreit, dann seid ihr wirklich frei.“ (Johannes 8,36)
Spüren Sie, wie kraftvoll diese Sätze sind? Was ist denn nun das Besondere, vielleicht sogar Einmalige an dem Bild von Freiheit, das die Bibel zeichnet? Es ist vor allem eines: Wir müssen uns die Freiheit nicht erarbeiten, nicht verdienen. Sie ist uns geschenkt. Christus hat uns Menschen frei gemacht, und zwar ein- für allemal. So groß ist die Liebe Gottes zu den Menschen, zu jeder und jedem einzelnen von ihnen: Wir müssen uns nicht selbst befreien, nicht selbst erlösen.
Schon das Alte Testament hat das befreiende Wirken Gottes in Texten mit hoher poetischer Kraft beschrieben: „Unsere Seele ist wie ein Vogel dem Netz des Jägers entkommen; das Netz ist zerrissen und wir sind frei.“ (Psalm 124,7) Oder: „Als der Herr das Los der Gefangenschaft Zions wendete, da waren wir alle wie Träumende. Da war unser Mund voll Lachen und unsere Zunge voll Jubel. Da sagte man unter den anderen Völkern: Der Herr hat an ihnen Großes getan.“ (Psalm 126,1)
Und hier nun kommt tatsächlich unsere Verantwortung ins Spiel. Doch sie steht nicht im Gegensatz zur Freiheit. Im Gegenteil! Man könnte sagen, dass unsere größte Verantwortung die ist, die Freiheit zu schätzen und sie zu schützen – die eigene und die der anderen, in unserem persönlichen Umfeld und in der Gesellschaft.

Illustration: (c) melitas (iStock)

Es lohnt sich, immer wieder einmal die Frage zu stellen: Wie steht es um die Freiheit? Erfahre ich sie in meiner Familie, in meiner Gemeinschaft, in der Kirche? Sorge ich mich um die Freiheit der anderen? Fordere ich sie notfalls ein? Schenke ich selbst Freiheit? Vielleicht ist es noch interessanter, all diese Fragen in der Wir-Form zu stellen, also gemeinsam mit den Menschen, mit denen wir das Leben teilen.
Wenn Christen die Freiheit schätzen und schützen, dann haben sie viel zu geben. Und gleichzeitig sollten sie demütig genug sein zu wissen, dass sie Lernende sind; dass sie von den Überlegungen und dem Zeugnis vieler Menschen lernen können – seien sie nun gläubig oder nicht.
Nur ein Beispiel: Der Esslinger Philosoph Peter Vollbrecht setzte sich in einem nachlesenswerten Vortrag mit dem Verhältnis von Freiheit und Verantwortung auseinander. Darin heißt es: „Ich lege großen Wert darauf, Freiheit als einen Prozess zu begreifen, als ein Potenzial, das nach Realisierung drängt. Und dieses Potenzial tritt auf zwei verschiedenen Bühnen auf: als Innenpolitik der Freiheit und als Außenpolitik der Freiheit. Innenpolitik – das wäre der Prozess der individuellen Selbstbestimmung, die zu einem autonomen Selbst führen kann, innere Freiheit also. Außenpolitik – das wäre die Freiheit des sozialen Feldes, in das jedes Individuum eingefügt ist. Je freier, pluralistischer, vitaler die soziale Mitwelt ist, desto optimaler kann das Individuum sein je eigenes Freiheitspotenzial realisieren.“
Chiara Lubich, die Gründerin der Fokolar-Bewegung, schrieb einmal: „Lass mich die Freiheit, die du bezahlt hast, durch mein Leben zum Ausdruck bringen. Lass mich Zeuge dieser Freiheit sein“ (Alle sollen eins sein, München, 1999, S.163). Das christliche Verständnis von Freiheit nicht nur zu schätzen und zu schützen, sondern auch zu bezeugen: Wie wichtig wäre dies gerade heute! Wohl kaum ein Thema wird seit Beginn der Pandemie so heiß diskutiert, wie das Verständnis von Freiheit.
Auch hier nur ein Beispiel: Die Tageszeitung „Die Welt“ leistet sich seit einiger Zeit mit Anna Schneider eine „Chefreporterin Freiheit“. In ihren Artikeln, in vielen Tweeds bei Twitter und vor allem in ihrem jüngst erschienen Buch „Die Freiheit beginnt beim ich“ bekennt sie sich entschieden und oft polemisch zum unbedingten Vorrang der individuellen Freiheit. Nicht weniger streitbar stellt sich ihr Elena Witzeck in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung entgegen. Sie wirft Anna Schneider „Radikalindividualismus“ vor und schreibt: „Die individuelle Selbstentfaltung begann in dem Moment, als sie nicht länger das Privileg Einzelner, sondern ein universeller Anspruch der Gesellschaft war.“
Die Freiheit ist nicht wichtiger als die Verantwortung; aber sie steht vor ihr. Wer frei ist, kann Verantwortung übernehmen. Gleichzeitig gilt: Freiheit ohne Verantwortung schafft sich selbst ab. Auch das bezeugt die Bibel, wenn Paulus an die Gemeinde in Korinth schreibt: „Alles ist mir erlaubt – aber nicht alles nützt mir. Alles ist mir erlaubt – aber nichts soll Macht haben über mich.“ (1 Korinther 6,12)
Von dem herausfordernden Ringen um Freiheit und Verantwortung möchten die nächsten Seiten Zeugnis ablegen.
Peter Forst


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Januar/Februar 2023.
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