Frieden ist der Weg
Die vergangenen Jahre haben unsere Vorstellung davon, was Frieden heißt
und wie Wege zum Frieden aussehen, heftig durcheinandergebracht. Und jetzt?
Vor 80 Jahren ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Das Erschrecken über die Grausamkeit des Krieges selbst und die Fassungslosigkeit über den Zivilisationsbruch der Shoah waren groß; so groß, dass die Staatengemeinschaft alle möglichen Maßnahmen ergriff, um einen weiteren Weltkrieg zu verhindern. Tastsächlich erlebten wir in Europa über Jahrzehnte hinweg eine so nicht gekannte Zeit des Friedens.
Ich bin in den 1970er- und 1980er-Jahren aufgewachsen. Es war die große Zeit der Friedensbewegung. „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ war eine unverhandelbare Überzeugung. So habe ich den Kriegsdienst verweigert und stattdessen Zivildienst geleistet, der deutlich länger dauerte als der Wehrdienst. Ich war sicher, auf der richtigen Seite zu stehen.
Die vergangenen Jahre allerdings haben meine Vorstellung davon, was Frieden heißt und wie Wege zum Frieden aussehen, heftig durcheinandergebracht. Kann es sein, dass ich es mir damals ein bisschen zu leicht gemacht und mich in der eigenen Friedfertigkeit gesonnt habe? In jedem einzelnen Jahr nach 1945 gab es Krieg! Insgesamt waren es mehrere hundert. Doch mit wenigen Ausnahmen habe ich, haben wir sie kaum wahrgenommen, oder? Sie waren weit weg. Selbst der Krieg im ehemaligen Jugoslawien (1991 bis 2001) hat uns nur kurz erschüttert.

Dann kam der 24. Februar 2022, der Tag, an dem der Angriff Russlands auf die Ukraine begann. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sprach wenige Tage später von einer Zeitenwende. Vermutlich hat er damit nicht übertrieben. Die Vorstellung vom Frieden hat jedenfalls für viele Menschen, auch mich, ihre Eindeutigkeit verloren: Es ist nicht automatisch Frieden, wenn die Waffen schweigen. Steht Frieden doch für die Herrschaft des Rechts, der Menschenrechte, der Freiheit und der Gleichheit vor dem Gesetz. Was heißt „Nie wieder Krieg!“ aus der Sicht eines angegriffenen Landes? Was bedeutet es für die benachbarten und befreundeten Staaten, wenn ein Land überfallen wird? Was ist ein „gerechter Frieden“? Führt der Wunsch nach Frieden um jeden Preis dazu, dass der Angreifer in seinem Handeln bestärkt wird?
Es ist jedenfalls erschreckend zu sehen, welches Maß an Zerstörung und Hass der Machtwille und die Eitelkeit einiger weniger Männer – es sind ja fast nur Männer – hervorbringen kann. Und wie hilflos und immer wieder auch tatenlos die internationale Gemeinschaft gegenüber den vielen Kriegen wirkt. Es scheint, dass ihr auch deshalb die Hände gebunden sind, weil Einzelinteressen im Vordergrund stehen, das Denken in den eigenen Grenzen vorherrscht. Der viel beschworene Multilateralismus, also die staatenübergreifende Suche nach Lösungen, nach Frieden, scheint es schwer zu haben.
Nun also beschließen Staaten Rüstungsausgaben in lange nicht mehr vorstellbarer Höhe. Kriegstüchtigkeit soll den Frieden bewahren und Waffen versprechen Sicherheit. Diese Maßnahmen stoßen auf breite Zustimmung. Auch die Kirchen und ihre Spitzenvertreter – mit der prominenten Ausnahme von Papst Franziskus – halten die massive Erhöhung der Verteidigungsausgaben für richtig, die einen mit mehr, die anderen mit weniger Bauchschmerzen. Bei genauerem Hinsehen sind die Aussagen der Kirchen zu Krieg und Frieden zwar differenzierter als es scheint. Und doch ist unübersehbar, dass auch sie sich neu orientieren mussten.
Und jetzt? Was ist geblieben von der Überzeugung, dass im Krieg alle verlieren? Wie steht es um den Glauben daran, dass Frieden möglich ist? Welche Rolle bleibt der Diplomatie? Haben Pazifismus und passiver Widerstand ausgedient? Wie kann das Leben und die Arbeit für den Frieden heute aussehen? Ich muss gestehen, dass ich keine eindeutigen Antworten auf diese Fragen habe. Aber mir scheint es ungemein wichtig, diese Fragen wachzuhalten. Es gibt nicht nur den einen Weg zum Frieden, der im Augenblick wieder Abschreckung zu heißen scheint.

Die Fokolar-Bewegung ist im Zweiten Weltkrieg entstanden. „Was in Trümmern begann“, so fing über viele Jahre hinweg jede Erzählung über deren Geschichte an. Aus der einschneidenden Erkenntnis in der entstehenden Gemeinschaft um Chiara Lubich, dass der Krieg alles zerstören kann, nicht aber Gott, folgte der uneingeschränkte Glaube an die Liebe dieses Gottes und als Konsequenz daraus die tatkräftige Hilfe für die Armen, die – wie immer im Krieg – am meisten litten.
Aus Anlass des 80-jährigen Bestehens der Fokolar-Bewegung hat Papst Franziskus im Dezember 2023 an diese Berufung erinnert: Mehr denn je brauche die von Konflikten zerrissene Welt „Handwerker der Geschwisterlichkeit und des Friedens unter den Menschen und Nationen“, sagte er. Chiara Lubich habe das klar erkannt und das Hauptziel der Fokolar-Bewegung 1998 so beschrieben: „Liebe sein und sie verbreiten.“ Franziskus: „Wir wissen, dass nur aus der Liebe die Frucht des Friedens hervorgeht. Deshalb bitte ich euch, Zeugen und Baumeister des Friedens zu sein, den Christus mit seinem Kreuz erreicht hat, indem er die Feindschaft besiegte.“
Die Feindschaft besiegen. Dieser Weg steht uns auch in Zeiten größter Unsicherheit offen. Wie steht es um den Frieden in mir? Kann ich im Vertrauen auf die Zusagen Gottes trotz allem gelassen bleiben? Oder zumindest immer wieder werden? Wie steht es um den Frieden in meinen persönlichen Beziehungen? Bin ich bereit zuzuhören, zu verzeihen? Kann ich in einer Welt, in der es häufig heißt: „Amerika zuerst“, „Deutschland zuerst“ oder auch „Ich zuerst“ sagen: „Der andere zuerst“? Kann ich glauben, dass das Private immer auch politisch ist; das Leben des Friedens im Kleinen also nicht ohne Auswirkung auf das Große, auf die Gesellschaft, ja auf die ganze Welt bleibt? Von Mahatma Gandhi stammt der Satz: „Es gibt keinen Weg zum Frieden. Frieden ist der Weg.“ Er gilt auch heute. Vielleicht gerade heute.
Peter Forst
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Mai/Juni 2025.
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