6. Oktober 2023

Wissenslust mit Weitblick

Von nst5

Offener Brief an Anton Zeilinger

Sehr geehrter Herr Zeilinger!
Seit 1988 haben Sie sich der Erforschung der Quantenverschränkung verschrieben: Dazu gehört die Verknüpfung von voneinander entfernten Teilchen wie beispielsweise Photonen – ein Phänomen, das Albert Einstein als „spukhafte Fernwirkung“ abtat und das Ihnen den Spitznamen „Mr. Beam“ einbrachte. Sie waren so fasziniert, dass Sie Ihren Forschungsschwerpunkt dorthin verlagerten. Die Forschungsziele lagen Ihnen damals nur ungefähr vor Augen; noch weniger klar zeichneten sich Wege ab, um sie zu erreichen. Der technische Fortschritt ermöglichte entsprechende Experimente erst ein Jahrzehnt später. Diese Erfahrung lässt Sie immer wieder davor warnen, die finanzielle Förderung der Forschung zu stark von vorher festgesetzten Zielen und geplanten Methoden abhängig zu machen. Zu früh werde schon auf ihre mögliche Anwendung geschielt. Grundlagenforschung braucht hingegen Spielraum, so Ihr Mantra, Freiräume für Kreativität, um in neue Bereiche vordringen und offen bleiben zu können für unvorhersehbare Entwicklungen, die echte Innovation erst möglich machen.
Die Quantenphysik dringt in Bereiche vor, die die Vorstellungskraft vieler Menschen weit übersteigen. Sie sind ein Pionier auf diesem Gebiet, eine seit Jahrzehnten international anerkannte Kapazität! Da ist es nicht selbstverständlich, dass Sie überhaupt nicht abgehoben wirken oder engstirnig nur auf Ihr Spezialgebiet schauen. Ganz im Gegenteil: Sie tun viel dafür, Menschen ohne großartige Physik-Kenntnisse diese ihnen völlig fremde Welt zu erschließen. Und Sie haben ein Talent, ihnen die komplexe Materie nahezubringen. So schaffen Sie es, die Faszination, die Sie selbst erfahren haben, und die Neugier, die Sie antreibt, in vielen anderen zu wecken.
Bei allem Wissen und Erfolg haben Sie sich Demut und Bescheidenheit bewahrt. So beispielsweise, wenn Sie klar machen, dass alle wissenschaftliche Erkenntnis Grenzen hat: In der Naturwissenschaft gebe es viele Dinge, die kausal nicht erklärbar sind. So könne sie auch die Existenz Gottes nicht beweisen; ebenso wenig könne sie diese widerlegen.

Mich beeindruckt, wie viel Neugier, Interesse, Empathie Sie weit über Ihr Fachgebiet hinaus zeigen: Sie machen sich Gedanken, welche Folgen Ihre Forschungsergebnisse haben, welche philosophischen und religiösen Fragen sie aufwerfen, inwiefern sie die Wirklichkeit beschreiben und was für einen Sinn Sie den Menschen heute vermitteln können.
Wie viele Zeitgenossen sorgen Sie sich um die Zukunft: des Planeten – Stichwort Klimawandel; der sozialen und politischen Gesinnung – Stichworte Populismus, Extremismus und Ausgrenzung. Dennoch sind Sie weit davon entfernt, Endzeitstimmung zu verbreiten. Ihnen ist es vielmehr unheimlich, wenn jemand genau zu wissen glaubt, wie die Welt in zwanzig oder dreißig Jahren aussehen wird. In Ihrer Rede im Mai zur Eröffnung der Salzburger Festspiele plädierten Sie für mehr Optimismus. Es scheint, dass die eigene Erfahrung mit der menschlichen Neugier, der Vernunft, aber auch der mystischen Dimension des Lebens Ihre optimistische Sicht begründen. Wer Sie erlebt, den stecken Sie mit Ihrem unbändigen Entdeckergeist und mit dieser Zuversicht an!
Mit freundlichen Grüßen

Clemens Behr, Redaktion NEUE STADT

Anton Zeilinger,
78, ist in Ried im Innkreis geboren. Der österreichische Quantenphysiker war Universitätsprofessor in Innsbruck und Wien, hat wissenschaftliche Institute geleitet, ist Mitglied zahlreicher Akademien und wurde vielfach für seine Arbeit ausgezeichnet. Zu seinen über fünfhundert wissenschaftlichen Publikationen kommen die beiden populärwissenschaftlichen Bücher „Einsteins Schleier“ (2003) und „Einsteins Spuk“ (2005). 2022 bekam er mit Alain Aspect und John Clauser den Nobelpreis für Physik. Ende Juli hielt er die Festrede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2023, Anfang August den Festvortrag zum Abschluss der Salzburger Hochschulwoche.



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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, September/Oktober 2023.
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