2. August 2024

Die Natur heiligen

Von nst5

Seit Kindheitstagen lebt Petra Pietzonka naturverbunden.

Bewahrung der Schöpfung heißt für sie: Verantwortung übernehmen für alles, was uns gegeben ist.

An der Einfahrt zum Hof hängt ein Schild: „Das ist kein unordentlicher Garten, sondern eine 5-Sterne Wellness-Oase für Bienen!“ Hier ist die Agraringenieurin Petra Pietzonka zu Hause. Auf dem Küchentisch steht schon eine Kanne Tee aus frisch gepflückten Kräutern aus dem Garten bereit: Melisse, Johanniskraut, Schafgarbe, Spitzwegerich. „Das ist sehr bekömmlich, gut bei nervösem Magen“, erklärt mir Petra. Lange sitzen wir aber nicht in der Küche, denn Petra will mit mir nach draußen, auf die Wege und Felder ihrer Kindheit. Hinter einem kleinen Wäldchen erblicken wir einen imposanten Feldahorn, den Petra schon oft im Jahreszeitenverlauf fotografiert hat. Geradezu ehrfürchtig meint sie: „Wie viel Zeit so ein Baum steht! Dieser war ja schon so groß, als ich ihn früher von meinem Kinderzimmer aus sehen konnte.“

Petra Pietzonka. – Foto: (c) Elisa Vogginger

Wir sind im Umland der sächsischen Stadt Meißen. In dem kleinen Ort Polenz leben rund 200 Menschen. Petra Pietzonka ist hier aufgewachsen, ihre Familie ist seit dem 19. Jahrhundert in dem Ort angesiedelt und besitzt heute circa sechs Hektar Land. „Mein Vater war Bauer mit ganzer Seele; er hat sich immer für sein Land verantwortlich gefühlt“ – selbst nach der Zwangsverstaatlichung durch die DDR 1960. Obstbäume, vor allem Kirschbäume, wuchsen neben den Ackerkulturen damals auf den elterlichen Grundstücken. Der aufwendige Ernteprozess wurde für die LPG, die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, zunehmend unrentabel, sodass sämtliche Bäume auf der Fläche, die mir Petra zeigt, Anfang der 1970er-Jahre gerodet wurden. „Dass die Bäume einfach so gefällt wurden … Das hat mich schon als Kind bewegt und tut mir noch heute weh.“
Mit Ehepartner Stephan hat sie vier erwachsene Kinder, die verstreut in Sachsen leben. Heute sieht die 61-Jährige ihren Lebensauftrag darin, für das Land zu sorgen, das ihr gegeben ist, die Gegend und Landschaft lebenswert zu gestalten. So haben Petra und ihr Ehemann in Eigeninitiative sechs Sitzbänke aus alten Baumstämmen in der näheren Umgebung an öffentlichen Feld- und Waldwegen aufgestellt. Die Fläche um die Bänke mähen sie regelmäßig, damit diese gut zugänglich sind. „Und das alles ohne Gegenleistung?“, frage ich. „Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast“, zitiert Petra aus „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry. Die Liebe zur Natur und den Einsatz für das Gemeinwohl habe sie schon in ihrer atheistisch geprägten Familie vorgelebt bekommen.

Foto: (c) Elisa Vogginger

In ihrer Schulzeit war Petra engagiertes Mitglied in der FDJ, der Jugendorganisation in der DDR. „Als wir die Jugendweihe [Anm. der Red.: Feier des Übergangs vom Jugend- ins Erwachsenenalter] planten, habe ich mich dafür eingesetzt, dass alle Schüler die interessanten Veranstaltungen über das Schuljahr miterleben konnten, unabhängig davon, ob sie an der Feier und dem damit verbundenen Gelöbnis auf die DDR teilnahmen. Üblicherweise wurden ja diejenigen von diesen Unternehmungen ausgeschlossen, die nicht linientreu waren, etwa weil sie bekennende Christen waren. So etwas ärgerte mich maßlos und ich spürte, dass in dieser Ideologie keine echte Gemeinschaft aller gewollt war.“ Als Jugendliche machte sich Petra dann tiefer gehende Gedanken über den Sinn des Lebens und sie erinnert sich, wie sie als 14-Jährige lange Gespräche mit Stephan, ihrem heutigen Ehemann, darüber führte – er war katholisch aufgewachsen. „Ich hatte so viele Fragen! Da entschloss ich mich, heimlich den Religionsunterricht einer Kirchgemeinde in Meißen zu besuchen, zufällig bei einem Priester der Fokolar-Bewegung. Meine Eltern waren strikt gegen alles, was mit der Kirche zu tun hatte, vor allem als ich später den Wunsch äußerte, getauft zu werden.“ Mit 20 Jahren erst wird Petra dann getauft. Über den Priester aus Meißen ergaben sich erste Kontakte zu den Jugendlichen der Fokolar-Bewegung, wo sie bald auch eine spirituelle Heimat fand. Denn dort, sagt sie, habe sie genau diesen „Sinn für Gemeinschaft“ entdeckt, nach dem sie sich gesehnt hatte.
Dass sie einmal einen Beruf in der Landwirtschaft ergreifen würde, war Petra zeitig klar. Den gewünschten Ausbildungsplatz zur Gärtnerin bekam sie nicht, fand sich aber vorerst damit ab und wurde Elektronikfacharbeiterin. „Man kann alles lernen!“, betont Petra in ihrer pragmatischen Art. Doch die Aussicht auf eine eintönige Arbeit in einer Chipfabrik im Dresdner Norden machte der jungen Frau deutlich, dass sie ihrem eigentlichen Berufswunsch nachgehen will. Petra verlässt ihre sächsische Heimat und macht in Magdeburg eine Ausbildung zur Agraringenieurin. Im Anschluss daran sammelt sie erste Berufserfahrung im Bereich der Pflanzenschutzmittelkontrolle in Quedlinburg. Inzwischen hatte ihr Jugendfreund Stephan wieder Kontakt aufgenommen; wenige Jahre später, mit Mitte zwanzig, heiraten die beiden.

Foto: (c) Elisa Vogginger

1994 zog es Petra nach weiteren beruflichen Zwischenstationen in Riesa und Meißen zurück ins Heimatdorf, nun mit ihrer eigenen Familie. Die Pflege des Baumbestands und das naturschutzgerechte Bewirtschaften der Wiesen prägten damals wie heute die Lebensweise der Pietzonkas. Ein Teil ihrer Grundstücke ist noch immer verpachtet, doch auch dort schauen die Eigentümer, dass es keine „aufgeräumten Agrarlandschaften“ werden, wie Petra sie nennt. „Das Land soll genutzt und die Artenvielfalt gefördert werden!“
Während wir miteinander reden, scheint die Sonne kräftig und so halten wir uns eine Weile im wohltuenden Schatten eines großen Ahorns auf, in dessen Krone es vor Bienen nur so summt. Ich blicke nach oben, in das prächtige Blätterdach und erfahre, dass Petra und Stephan diesen Baum vor 30 Jahren gepflanzt haben. Und nicht nur diesen: Alle Bäume, die ich an den Feldwegen sehen kann, haben die beiden angepflanzt und über die Jahre gepflegt. Die Linden, Ahorn- und Nussbäume wurden nicht teuer gekauft, sondern einst ausgegraben, wo sie „zu viel waren“. Die eigenen Wege und Felder haben die Pietzonkas komplett mit Bäumen umsäumt, dazu auch einige Nachbargrundstücke. Inzwischen unterstützt auch eine interessierte Nachbarin die Pflanzaktionen, die von der Dorfgemeinschaft und Wanderern als Bereicherung der Kulturlandschaft sehr geschätzt und gelobt werden. Dabei sind die Baumränder nicht bloß optische Aufwertung, sondern wichtiger Lebensraum und Rückzugsort für Tiere und Schutz für den Ackerboden vor starken Wind- und Regeneinflüssen, sogenannter Erosionsschutz. Die Bäume an den Wegrändern sind ein Herzensprojekt für das Ehepaar. Sie brauchen viel Einsatz, regelmäßiges Mähen und Entasten, damit landwirtschaftliche Geräte das angrenzende Feld gut bearbeiten und unter den Ästen hindurchfahren können. All das leisten die beiden in ihrer Freizeit, bezeichnen es humorvoll als kostenlosen Aktivurlaub.

Petras Mann Stephan Pietzonka bei der Baumpflege. – Foto: privat

Wir gehen den baumgesäumten Feldweg weiter. Immer wieder unterbricht Petra kurz das Gespräch, um jeden Falter, jeden Vogel, jedes Gewächs zu benennen, die gerade zufällig unseren Weg kreuzen, als ob sie einen guten Bekannten grüßen würde: „Ah, da, ein Neuntöter. Und schau hier, so wunderschöne Glockenblumen!“ Petra sieht und liebt alles, was Teil der Natur ist. Auf dem kleinen Hang neben ihrem Haus wachsen Pflanzen, die im Nutzgarten zu platzfordernd waren und sich hier nun in Ruhe ausbreiten dürfen, so auch die prächtigen Lupinen, die von brummenden blauen Holzbienen und anderen Insekten umschwärmt werden. „Ein Insektenhotel brauchen wir nicht, wir haben genug alte Bäume, die als Totholz stehen bleiben dürfen, oder auch reichlich Platz in unserer Reisighecke.“ Doch auch in ihrem wild anmutenden Hanggarten wird nicht alles dem Zufall überlassen: Petra achtet genau darauf, die Pflanzenvielfalt zu erhalten, indem sie die Vermehrung kleiner Pflanzen unterstützt, die ohne ihr Zutun verdrängt würden. Die Liebe zur Pflanzen- und Tierwelt und die Liebe zu den Mitmenschen betrachtet die Agraringenieurin als gleichwertig. Eine Sichtweise, die nach ihrer Wahrnehmung von vielen christlichen Weggefährten lange Zeit nicht nachvollzogen werden konnte: „Die Liebe zum Nächsten zählte mehr als die Liebe zur Natur.“ Inzwischen habe sich durch die Thematisierung von Klimawandel und Energiewende das Bewusstsein für die Bewahrung der Schöpfung geschärft, Umweltschutz sei in die Mitte der Gesellschaft gerückt. „Endlich!“, unterstreicht Petra. Sie fühle sich nun verstanden mit dem, was ihr schon vor rund 30 Jahren auf einem Kongress der Fokolar-Bewegung ins Herz gefallen war: „Es ging um unser Verhältnis zur Natur, sie nicht nur zu nutzen, sondern sie zu bestaunen, zu betrachten. Wir sind hier auf Erden, um die ganze Welt einschließlich der Natur zu heiligen. ICH bin für das Heilwerden der Natur zuständig!“ Ein wesentlicher Beitrag sei dabei ein ressourcenschonendes Leben, wie sie es in ihrer Familie ganz konkret lebe: etwa durch bewusste Energienutzung mittels Solarstrom, viel Eigenversorgung aus dem Garten, das gemeinschaftliche Nutzen und Verleihen technischer Geräte oder durch ortsnah gestalteten Urlaub ohne Flugreisen. Ganz begeistert berichtet Petra dabei von ihrem ersten Sonnenaufgang an der Ostsee, den sie erst im vergangenen Herbst erleben durfte.

Foto: privat

Wir kehren von unserem Spaziergang zurück. Es ist noch etwas Kräutertee übrig, dazu stellt Petra frisch aufgegossenen Waldmeister, natürlich von der eigenen Wiese, denn „Vitamine von sonstwoher“ kommen hier eher selten auf den Tisch. Die vierfache Mutter ist inzwischen auch Großmutter und gibt gemeinsam mit ihrem Ehepartner ihr Wissen und vor allem ihre Liebe zur Natur an die Enkelkinder weiter, auch wenn sie seit Kurzem ihren eigentlichen Beruf als Agraringenieurin nicht mehr ausübt. Aktuell versorgt Petra hauptsächlich ihre pflegebedürftige Mutter und absolviert eine Ausbildung zur Alltagsbegleiterin. Zukünftig kann sie damit Senioren bei der Bewältigung täglicher Abläufe zu Hause unterstützen, sowie beim Arztbesuch oder Einkauf.
Die Frage, wer sich später einmal um ihre Grundstücke und Bäume kümmern wird, wenn sie es selber nicht mehr kann, beschäftigt sie. Vielleicht die Kinder oder Enkelkinder? Vielleicht Menschen, deren Herz genauso für all das schlägt, was dieser grüne Flecken Erde mitten in Sachsen zu bieten hat? Lange grübelt Petra aber nicht nach, denn für sie zählt zunächst, dass sie täglich umsetzt, was sie als ihren ganz persönlichen Auftrag verstanden hat: „Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung!“ (Worte Jesu aus dem Markusevangelium 16,15) Darunter versteht Petra: „dass unser Einsatz nicht nur unseren Mitmenschen gelten soll, sondern der ganzen Schöpfung, auch den Tieren, Wäldern, Wiesen, Feldern, Landschaften…“ Als ich Petras Hof wieder verlasse, streift mein Blick nochmal die bunte Blütenpracht vor dem Haus. Heute habe ich eine Ahnung davon bekommen, wie viel Arbeit und Herzblut in dieser „Wellness-Oase für Bienen“ steckt.
Elisa Vogginger


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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Juli/August 2024.
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