Die Verlockung des Autoritären
Offener Brief an Anne Applebaum
Sehr geehrte Frau Applebaum!
Bisher habe ich nur eines Ihrer Bücher gelesen: „Die Verlockung des Autoritären“. Doch wohl kaum eine Lektüre der letzten Jahre hat meinen Blick auf die Welt so geprägt wie dieser Band mit dem sprechenden Untertitel: „Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist“.
Autoritäre Herrschaft, so zeigen Sie auf, beginnt nicht mit der Übernahme der Macht durch Politiker, die demokratisch eher zweifelhaft gesonnen sind. Autoritäre Herrschaft wird über lange Zeit kulturell vorbereitet, indem „mittelgroße Lügen“ verbreitet werden; „mittelgroß“, weil sie im Vergleich zu den „großen Lügen“ des 20. Jahrhunderts (Nationalsozialismus und Kommunismus) klein sind, aber immer noch groß genug, um ganze Nationen in Bewegung zu bringen: Beispiele für solche Lügen sind etwa, dass es Großbritannien nach einem Austritt aus der Europäischen Union schlagartig besser gehen würde, oder dass der Flugzeugabsturz in Smolensk im Jahr 2010, bei dem der polnische Präsident Lech Kaczynski und zahlreiche Menschen der politischen und gesellschaftlichen Elite des Landes ums Leben kamen, kein Unfall, sondern ein Attentat war.
Menschen aus der geistigen Elite, so beklagen Sie, Intellektuelle, Wissenschaftler und Publizisten, verrieten ihre eigentliche Aufgabe, die Wahrheitssuche, und ließen sich für politische Interessen einspannen, indem sie diese Lügen verbreiten.
Sie selbst bezeichnen sich als Konservative. Ihr Buch beginnt mit der Erzählung der Silvesterparty zum Jahrtausendwechsel, zu der Ihr Mann und Sie in das nordwestpolnische Chobielin eingeladen hatten. Die meisten Ihrer Gäste „hätte man wohl zu dem gezählt, was man in Polen seinerzeit ‚die Rechte‘ nannte – Konservative und Antikommunisten.“ Heute, so schreiben Sie weiter, würde „die Hälfte unserer Gäste kein Wort mehr mit der anderen wechseln.“
Die Radikalisierung vieler Konservativer in den vergangenen 20 Jahren hat Sie nicht nur viele Freundschaften gekostet. Sie hat auch der „antidemokratischen Herrschaft“ in einer ganzen Reihe von Ländern des Westens wie des Ostens den Weg bereitet. Auch Deutschland und Österreich scheinen davor nicht gefeit. Die Wahlen zum Nationalrat und zu den Parlamenten in Brandenburg, Sachsen und Thüringen werden da Aufschluss geben.
Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als seien nur Konservative anfällig für die „Verlockung des Autoritären“. Manche meiner Freunde in Polen, Ungarn oder der Slowakei empfinden das anders. Sie werden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass auch sich liberal oder progressiv gebende Kräfte ihre Ziele mit allen Mitteln durchsetzen.
Trotz aller Ernüchterung endet Ihr Buch mit einem Bekenntnis zur Freundschaft als politischer Kategorie: „Wir können nichts anderes tun, als unsere Verbündeten und unsere Freunde … mit großem Bedacht zu wählen, denn nur gemeinsam mit ihnen ist es möglich, den Versuchungen der verschiedenen Formen des Autoritarismus zu widerstehen.“ Solche Menschen in den verschiedenen politischen Lagern zu suchen und die Freundschaft mit ihnen zu pflegen, ist jede Mühe wert.
Mit freundlichen Grüßen,
Peter Forst, Redaktion Neue Stadt

Anne Applebaum
wurde 1964 in Washington, D.C. als Kind jüdischer Eltern geboren. Seit 30 Jahren lebt sie in Polen und besitzt inzwischen auch die Staatsbürgerschaft des Landes. Sie ist mit Radosław Sikorski verheiratet, dem derzeitigen Außenminister Polens. Am 20. Oktober erhält sie in Frankfurt am Main den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In der Begründung heißt es: „In einer Zeit, in der die demokratischen Errungenschaften und Werte zunehmend karikiert und attackiert werden, wird ihr Werk zu einem eminent wichtigen Beitrag für die Bewahrung von Demokratie und Frieden.“
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, September/Oktober 2024.
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