18. Juli 2017

Wem gehören die Samen und das Wasser?

Von nst5

Großkonzerne sichern sich Rechte an Saatgut und Wasserquellen. Damit machen sie Landwirte von sich abhängig, senken die Artenvielfalt und steigern die Armut: Eine bedenkliche Auffassung von Eigentum!

Sie sprudeln vor Leben: Ich radle gern durch die Dörfer von Zentralkenia! Da begegnet mir die Greisin, die ein Bündel Elefantengras zu ihren Rindern schleppt. Ein Mann gräbt die rote Erde seines Ackers mit der Hacke um. Am Straßenrand rennen Kinder mit mir um die Wette.
Die Sinfonie der vielen Grüntöne tut der Seele gut: Mugomo- und Eukalyptusbäume, Manioksträucher, Zuckerrohr, Mais, Bananenstauden, Palmen und Hecken ergänzen sich prächtig. Etwa hundert Vogelarten, vom Kolibri bis zum majestätischen Kronenkranich, laben sich an wilden Blüten, Grassamen, Fischen, den Überbleibseln der Maisernte oder den Würmern im aufgegrabenen Boden.
Also alles eitel Wonne? Mitnichten! Die Kleinbauern in Afrika zittern ums Überleben. Viele flüchten in die Städte – und landen oft in einem der Mega-Slums. In den neun Jahren, in denen ich nun in Afrika bin, habe ich erlebt: Wer eine solide Ausbildung hat, kehrt dem Bauerndasein den Rücken. Auf dem Land wird es monoton: Weite Kaffeeplantagen, Hügel von Teepflanzungen, Täler voller Ananas oder weiße Gewächshäuser mit Blumen für den Export. Dazwischen eingepfercht künstliche Dörfer mit baugleichen Häuschen. Dort leben die Arbeiter. Viele haben ihr Land an dieselben Unternehmer verkauft, für die sie jetzt schuften, weil man sie unter Druck gesetzt oder ihnen ein besseres Leben vorgemalt hatte. Diese Investoren haben oft gute Verbindungen in die Regierung. So steuern sie deren Entscheidungen im eigenen Interesse.
Kenia ist stolz auf seine Agro-Industrie. Sie trägt viel zum hohen Wirtschaftswachstum bei. Doch fürchte ich, hier wird als Fortschritt verkauft, was in Wahrheit in die verkehrte Richtung weist. Ist es eine Verbesserung, wenn Menschen, die eigentlich Experten für die Gesetzmäßigkeiten und Kreisläufe der Natur sind, tagein, tagaus nur Tee pflücken – für wenig Lohn und für Leute, die sich kaum um ihre Lebensumstände kümmern?

Ist das Fortschritt?
Jede Entwicklung ist fragwürdig, die Abhängigkeiten schafft. Wäre echter Fortschritt nicht vielmehr, wenn möglichst alle Menschen in die Lage kämen, ihre Herausforderungen selbstständig zu meistern? Dennoch erstreben bestimmte Großkonzerne das Gegenteil: Sie wollen möglichst viele Leute von sich abhängig machen, um daraus größtmöglichen Profit zu schlagen. Zum Beispiel Saatgut. Ja, die althergebrachten Samensorten sind weniger ertragreich als die von großen Firmen produzierten Hybridsamen. Aber die Bauern konnten sie selbst erzeugen. Bei Hybridsamen oder genmanipuliertem Saatgut geht das nicht mehr. Die Landwirte müssen es jedes Jahr kaufen. In wenigen Generationen verliert so eine Gesellschaft das jahrhundertealte Wissen, Saatgut zu erzeugen und eigenständig für die Zukunft zu sorgen.
Das spitzt sich zu, wenn Konzerne sich Patente auf Saatgut sichern – oft mit dem Beistand überstaatlicher Einrichtungen wie der EU. Unversehens arbeitet, wer auf herkömmliche Weise züchtet, plötzlich illegal: Er darf sein Saatgut weder erzeugen noch verkaufen, weil jemand ein Patent darauf hat. So macht sich ein Großunternehmen unverzichtbar, kann beliebig an der Preisschraube drehen und dicke Gewinne einfahren.

Aus demselben Grund reißen Lebensmittelkonzerne den Zugang zu Wasserquellen an sich, vor allem in trockenen Gebieten. Die Behörden erteilen die Erlaubnis, weil sie entweder käuflich sind oder kurzfristig denken. Im Nu graben diese Firmen der Bevölkerung – im Wortsinn! – das Wasser ab. Sie filtern es, füllen es ab und verkaufen es mit exorbitantem Gewinn: Trinkwasser kostet vielerorts mehr als Benzin! Den Anrainern aber vertrocknen die Felder. Sie müssen schmutziges Wasser trinken oder das Flaschenwasser kaufen. Ihr weniges Geld geht an die Firma, die ihre Wasserquellen besetzt hält.
Auf dem Weg zu einer kurzfristigen Gewinnmaximierung scheint es dazuzugehören, Strukturen der Abhängigkeit zu schaffen. Doch ich halte das für schlichtweg unmoralisch – umso mehr, weil wir hier von Gütern reden, die niemand erfunden oder erzeugt hat, sondern die die Natur allen zur Verfügung stellt. Wie kann jemand, der nur wenige Jahre an Pflanzen und Saatgut geforscht hat, sich im Recht glauben, darüber zu verfügen? Wieso sollten Regierungen das gestatten? Offenbar geben sie dem süßen Druck der Konzern-Lobbys nach. Ja, Forschung soll gebührend bezahlt werden. Aber sich ausschließliche Rechte sichern? Macht sich der Mensch so nicht zum Herrscher über andere, gar zum Gott?
Als Jugendlicher habe ich die Fokolar-Gründerin Chiara Lubich gefragt: Wie sollen wir mit den materiellen Gütern umgehen? Ihre Antwort: Ich solle es machen wie ein Baum. Der nehme aus der Umwelt nur das auf, was er zum Leben braucht. Den Rest überlasse er den anderen Geschöpfen.

Mach’s wie die Pflanzen
Mit allen Gütern so umzugehen, klingt weltfremd. Doch es birgt in sich eine revolutionäre und doch selbstverständliche Sicht von Ökonomie. Es geht nicht um den größten Gewinn und ständiges Wachstum. Ist ihr Ziel nicht vielmehr, dass keiner Mangel leidet? Sollte im Mittelpunkt der Wirtschaft nicht der Mensch stehen? Jeder von uns ersehnt ein friedvolles und sorgenfreies Leben. Mit meiner Kreativität, meiner Dienstleistung, meinem Kapital, Produkt oder Netzwerk kann ich dazu beitragen, dass sich das auch für meine Mitmenschen erfüllt. Und je besser mein Unternehmen läuft, desto mehr Menschen kann ich dienen.
Ist das naiv? Zumindest gibt es Unternehmer, die genau das versuchen. 1991 hat die Fokolar-Bewegung die Initiative „Wirtschaft in Gemeinschaft“ ins Leben gerufen. Ihren Prinzipien folgend, rücken Hunderte Firmeninhaber die Person in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten. Das sind keine karitativen oder Non-Profit-Organisationen: Wie andere müssen auch sie sich am Markt behaupten. Ich denke an weitere Ansätze von Gemeinwohlökonomie oder Modelle ethischen Wirtschaftens.
Wer dem Menschen den Vorrang einräumt, kann nicht andere von sich abhängig machen oder die Güter der Natur als eigene Schöpfung vermarkten. Gewinnmaximierung hingegen ist wie eine Droge. Anfangs stimuliert sie uns, dann lechzen wir nach immer mehr – und bleiben doch unerfüllt.
Ich glaube daran, dass es sich langfristig lohnt, wenn wir einzeln und gemeinsam der Gier entsagen und das Wohl aller Menschen suchen. Teil einer Gesellschaft, ja einer Weltgemeinschaft zu sein, in der wir füreinander sorgen, ist weit erfüllender, als in einem Meer von toten Reichtümern zu schwimmen, die wir uns auf Kosten anderer verschafft haben.
Ernst Ulz

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2017)
Ihre Meinung interessiert uns, schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt