10. April 2009

Was heißt hier nachhaltig?

Von nst_xy

In politischen Diskussionen spielt das Konzept der Nachhaltigkeit eine zentrale Rolle. Warum das so ist, erklärt Markus Vogt. Der Sozialethiker aus München ist überzeugt, dass eine vernetzte, ganzheitliche Sicht auf die gesellschaftlichen Fragen eine der größten Herausforderungen unserer Zeit ist.

Herr Vogt, der Begriff „Nachhaltigkeit” ist in aller Munde. Trotzdem hat man manchmal den Eindruck, dass keiner weiß, was damit eigentlich gemeint ist.
Vogt:
Die Beobachtung ist richtig. Der Begriff wird infla­tionär und oft wenig präzise gebraucht. Deshalb zögern manche schon wieder, ihn zu verwenden. Trotzdem ist Nachhaltigkeit der wichtigste Leitbegriff für langfris­tige Zukunftspolitik, die ökologische, ökonomische und soziale Aspekte integriert.
Können Sie das bitte erklären?
Vogt:
Man kann Armut nicht bekämpfen, ohne zugleich Ressourcen zu schützen. Denn Wassermangel und Bo­dendegradation, also die Verschlechterung von Böden, sind schon heute maßgebliche Armutsursachen. Auf Dauer werden Wohlstandsentwicklung und Friedens­politik nur gelingen, wenn wir zugleich Umwelt- und Klimaschutz betreiben. Das heißt: Wir müssen inte­griert, vernetzt denken. Die internationale Völkerge­meinschaft hat sich deshalb 1992 in der Konferenz in Rio de Janeiro auf das Leitbild der nachhaltigen Ent­wicklung als verpflichtendes Prinzip für die Weltpolitik geeinigt.
Es ist also ein relativ junges Konzept.
Vogt:
Nein, eigentlich nicht. Das Konzept der Nachhal­tigkeit kommt aus der Forstwirtschaft, wo es bereits 1713 formuliert wurde: „Nicht mehr Holz schlagen, als nachwächst”.
Man findet das Prinzip aber auch in der Ökonomie, wo es heißt: „Nicht vom Kapital, sondern von den Zinsen leben”.
Wenn man es noch grundsätzlicher sagen will: Nach­haltigkeit ist ein allgemeines Lebensprinzip. Denn was das Leben ausmacht, ist ja gerade die Tatsache, dass es sich selbst erneuern, also nachwachsen kann.
Der strategische Kern von Nachhaltigkeit ist Quer­schnittspolitik: Erst wenn man ökologische, ökonomische, soziale, kulturelle Faktoren vernetzt denkt, kann sich etwas selber tragen und weiter entwickeln. Dafür ist auch das Prinzip der Regionalisierung und der Verwurzelung vor Ort wichtig.
Das hört sich einerseits logisch und gleichzeitig nach einer großen Herausforderung an.
Vogt:
Das ist es. Unser Grundproblem in der Neuzeit ist, dass wir komplexe Zusammenhänge zu wenig achten. Wir maximieren einzelne Größen, die wir messen können, wie Geld, bestimmte Güter oder Geschwin­digkeit. Wohlstand und Stabilität sind aber zunehmend von Vernetzungszusammenhängen abhängig.
Wie lässt sich das in der Politik umsetzen?
Vogt:
Nachhaltigkeit ist in gewisser Weise die Antithese zu vielen Mustern gängiger Politik, die immer mehr auf kurzfristige Optimierung ausgerichtet sind, auf Wahlpe­rioden oder in der Wirtschaft auf Halbjahresbilanzen.
Es ist eine Herausforderung für die Politik, mit langfris­tigen Perspektiven umgehen zu lernen. Dazu brauchte es Instanzen, die beispielsweise die Gesetzgebung auf ihre langfristigen Wirkungen hin kontrollieren. Und wir brauchten eine Instanz, die der Politik kritisch auf die Finger schaut, wenn sie sich maßlos verschuldet; denn das ist nicht mit Gerechtigkeit gegenüber künf­tigen Generationen vereinbar. Wir brauchten interna­tionale Gremien, die darauf achten, wie wir sparsam und global gerecht mit Ressourcen umgehen.
Sehen Sie dafür außer in der Umweltpolitik Ansatz­punkte?
Vogt:
Obwohl Nachhaltigkeit ein Querschnittsproblem ist, spricht nichts dagegen, dass man zunächst von der Umweltpolitik ausgeht. Sonst bleibt es ein Leitbild, das so unendlich groß erscheint, dass man gar nicht weiß, wo anfangen und deshalb gar nichts tut.
Durch den Klimawandel werden die Menschen­rechte von mehreren hundert Millionen Menschen auf Leib und Leben, auf Sicherheit, auf Ernährung, auf einen Lebensraum verletzt. Das gilt schon heute und erst recht in den kommenden Generationen. Des­halb muss das Thema auf die Tagesordnung bei internationalen Konferenzen. Wir brauchen so etwas wie einen neuen Völkervertrag für Klimagerechtigkeit. Er hätte so grundlegende Bedeutung wie die Erklärung der Menschenrechte. Wenn wir das umsetzen, würde sich unsere Gesellschaft dadurch in allen Bereichen verändern.
Das ist sehr komplex. Woran kann sich jemand orientieren, der nachhaltig leben will?
Vogt:
Es gibt zum Beispiel vom deutschen Bundesumweltamt einen „nachhaltigen Warenkorb”. Die Lebensmittel und Konsumartikel wurden daraufhin bewertet, wie nachhaltig sie sind. Solche Bewertungen gibt es auch in Bezug auf den CO2-Verbrauch.
Natürlich ist das nicht absolut objektiv. Es gibt viel­leicht jemanden, für den bestimmte Produkte ganz wichtig sind und der sagt, ich will das lieber haben und dafür bei etwas anderem zurückhaltender sein. Diese Offenheit für unterschiedliche Präferenzen ge­hört zum Konzept der Nachhaltigkeit. Es versucht, die kulturelle Vielfalt zu achten und einzubeziehen.
Jeder kann also nach eigenem Gutdünken wählen.
Vogt:
Man darf Pluralität und Offenheit nicht mit Be­liebigkeit verwechseln. Die Auswahl ist individuell unterschiedlich, aber deshalb nicht unverbindlich und beliebig.
Es geht darum, Individualität positiv als Wert zu er­kennen und zu schätzen. Globale Vereinheitlichung, also zum Beispiel Städte, die überall gleich aussehen, ist in vieler Hinsicht lebensfeindlich. Sie führt dazu, dass wir die oft über Jahrhunderte gewachsene kultu­relle Anpassung an den jeweiligen Lebensraum missachten. Damit werden wir weder der Kultur noch der Ökologie gerecht.
Das Konzept der Nachhaltigkeit ist gerade aus der Sicht der christlichen Ethik sehr spannend, weil es im Kern um eine neue Aktualität und eine notwendige Transformation vieler traditioneller Wertorientierungen geht. Lebenssinn und Selbstbewusstsein nicht nur in maximalem Konsum zu suchen, das braucht „Ich-Stärke”. Das kann keiner allein, das braucht Gemeinschaft und langfristiges Denken.
Darin hat die Kirche, haben die Christen eine lange Erfahrung. Sie wissen, wie wichtig es ist, auch um der eigenen Identität willen am Ball zu bleiben, und sie haben Erfahrung darin, wie schwierig es ist, gegen den Strom zu schwimmen.
Ist Nachhaltigkeit dann ein Thema für Christen und Umweltschützer?
Vogt:
Soziologisch betrachtet ist das Neue an Nach­haltigkeit, dass sie das Thema Umwelt aus der ökologischen Ecke herausgeholt hat. Nachhaltigkeit ist eben auch eine Frage der Armutsbekämpfung und der weltweiten Gerechtigkeit. Und heute sind es unterschiedlichste soziale Gruppen, die sich damit auseinander setzen.
Aus der christlichen Sicht brauchen wir einen wech­selseitigen Lernprozess zwischen Kirche und Gesellschaft, um einen angemessenen, theologischen und ethischen Zugang zu finden.
Genau darin liegt eine riesengroße Chance. Es gibt gerade in Deutschland Tausende von sehr engagierten Menschen, die enttäuscht sind von der Kirche als Institution und die über eine positive Integration und Wertschätzung ihres Engagements einen neuen Zugang zum Glauben finden könnten.
Wir sollten Nachhaltigkeit auch als eine religiöse Suchbewegung wahrnehmen. Religiöse Suchprozesse haben immer mit ungelösten Problemen zu tun. Dies sind gegenwärtig vor allem die Frage nach Identität, nach weltweiter Gerechtigkeit, nach dem Umgang mit der Natur. An diesen Problemen, die die Gesellschaft und die Technik nicht aus sich heraus lösen können, entzündet sich eine neue transzendente, religiöse Frage. Wenn wir das im Sinne des 2. Vatikanischen Konzils als Zeichen der Zeit verstehen, steckt in der Auseinandersetzung mit dem Thema „Nachhaltigkeit” die Chance zu einer neuen Gotteserfahrung. Der ge­kreuzigte Christus ist in der leidenden Schöpfung und den dadurch leidenden Menschen gegenwärtig. Das Engagement für Nachhaltigkeit ist eine Form, uns neu mit den Grundlagen unseres Lebens auseinanderzu­setzen. Wir brauchen einen Zukunftshorizont jenseits von Fortschrittsoptimismus, der uns befähigt mit den Brüchen der Schöpfung umzugehen.
Dann steckt Sprengkraft in dem Thema?
Vogt:
Ja, und das braucht es auch, sonst haben wir verloren, bevor wir anfangen. Das Thema ist zu um­fassend.
Man kann nicht nur ein bisschen nachhaltig sein. Entweder man verankert das Anliegen in der eigenen Mitte, in der Mitte von Theologie und der eigenen Existenz und entdeckt dann die Verbindungen zu allem anderen, oder man hat es schon verpasst.
Vielen Dank für das Gespräch.
Gabi Ballweg

Markus Vogt
geboren 1962 in Freiburg i.Br., ist seit 2007 Professor für Christliche Sozialethik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er studierte Theologie und Philosophie in München und Jerusalem, war von 1992 bis 1995 Mitarbeiter im Sachverständigen­rat für Umweltfragen der Bundes­regierung und ist seit 1995 Berater der Arbeitsgruppe für ökologische Fragen der Kommission VI der Deutschen Bischofskonferenz. Bis 2007 war Vogt Professor für Christliche Sozialethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Benediktbeuern und leitete die dortige Clea­ringstelle „Kirche und Umwelt”. Markus Vogt ist verheiratet und Vater von drei Kindern.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2009)
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