23. April 2013

Schönheit ist keine Schande

Von nst1

Seit Jahrhunderten sind Menschen auf der Suche nach dem Geheimnis der Schönheit. Die Theaterwissenschaftlerin Katharina Wild beleuchtet die wechselvolle Geschichte des Schönheitsideals in der Kunst, vor allem im Theater, und lädt ein, die eigenen Schönheitsvorstellungen zu überdenken. 1)

„Es wird sich herausstellen, dass wir nicht ohne den Begriff Schönheit auskommen. Es ist keine Schande, diesen Begriff zu benötigen, aber es macht doch verlegen.“ 2) In diesen Sätzen Bertolt Brechts aus den 1930er-Jahren schwingt vieles mit, was heutige Künstler und Denker bewegt, wenn die Rede auf die Schönheit kommt.

Schönheit war in den letzten Jahrzehnten in der Kunst alles andere als en vogue. Schon seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hatte das Schöne seinen Rückzug angetreten. Klassische Schönheit, wie sie Kunst und Philosophie von der Antike bis zur Aufklärung beinah einhellig einforderten, wurde als Zweck und Ziel des Kunstschaffens immer fragwürdiger. Neue Schönheitskonzepte, neue Formsprachen entstanden. Das Bizarre, Paradoxe, Flüchtige, das Fragmentarische und Dissonante gewannen an Bedeutung und standen dem Ebenmaß, der Proportioniertheit, der Vollständigkeit, Vollkommenheit und Zeitlosigkeit klassischer Schönheit gleichberechtigt gegenüber. Spätestens nach Ende des Zweiten Weltkriegs war es geradezu verpönt, „schöne“ Kunst zu machen. Dies fand beispielsweise seinen Ausdruck in der Theorie der „nicht mehr schönen Künste“, wie Hans Robert Jauß sie Ende der 1960er-Jahre formulierte. Die Abkehr von der Schönheit war auch dem Missbrauch des Schönheitsbegriffs durch die NS-Diktatur geschuldet. Wer etwa an die kraftstrotzenden arischen Körper in den Filmen Leni Riefenstahls denkt, wird nicht umhin können, klassische Körperschönheit und menschenverachtende Verbrechen in Zusammenhang zu bringen. So ist es keineswegs verwunderlich, dass die Künstler späterer Generationen dem Schönen mit großer Skepsis begegneten.

Wie schön!

Bertolt Brecht hat dies sicher geahnt, wenn er von der Verlegenheit spricht, die sich ausbreitet, sobald der Begriff der Schönheit auftaucht. Eine Verlegenheit, die unabhängig von künstlerischen Überzeugungen aber auch im Alltag auftritt. Wie oft ist in der Alltagssprache der Ausruf „Wie schön!“ zu hören. Und wie oft verbirgt sich dahinter nicht nur Begeisterung, sondern auch Verlegenheit. Verlegenheit darüber, nicht genau in Worte fassen zu können, was der Anblick einer Landschaft, das Betrachten eines Kunstwerks, das Hören eines Musikstücks, die Begegnung mit einem Menschen in einem ausgelöst hat. Was ist eigentlich gemeint, wenn von etwas Schönem oder gar der Schönheit die Rede ist? Gibt es objektive Kriterien für die Schönheit oder ist sie ganz subjektiv? Kann Schönheit erzeugt werden und wie verändert sich unser Schönheitsverständnis im Laufe der Jahrhunderte?

Schönheitswahn

Und was hat wahre Schönheit mit dem inflationären Gebrauch des Wortes in der heutigen Konsumgesellschaft zu tun? Allenthalben locken Film, Fernsehen und Illustrierte sowie die Werbeindustrie mit den Versprechen ewiger Schönheit und Jugend. Der Wahn um den jugendlich-schönen Körper hält ganze Wirtschaftszweige am Leben. Der Kampf um den ebenmäßigen Teint, die faltenlose Haut, die makellose Figur absorbiert Lebensenergie und Kaufkraft nicht weniger Menschen. Schönheitsoperationen sind längst keine Seltenheit mehr. Kritisch hinterfragt werden solche Tendenzen etwa von der Performancekünstlerin Orlan. In einer Reihe von chirurgischen Eingriffen ließ sie ihr Gesicht entsprechend berühmter Vorbilder aus der Kunstgeschichte umgestalten: Ihr Kinn sollte dem von Botticellis Venus gleichen, die Stirn der Mona Lisa von Leonardo da Vinci etc. Damit legt sie den Finger in die Wunde einer Gesellschaft, die den eigenen Körper als Material begreift, den es ganz nach den eigenen Vorstellungen und Wünschen zu gestalten gilt.

Auf dem Hintergrund der wechselvollen Geschichte der Schönheit fällt es schwer, unbelastet von ihr zu sprechen. Und doch bleibt Schönheit eine Kraft, die Menschen bis heute fasziniert. Gerade in jüngster Vergangenheit gibt es beispielsweise im Bereich des Theaters eine Reihe von Künstlern, die sich aufs Neue zur Schönheit bekennen und mit ihr beschäftigen. So lässt sich die bildmächtige Theaterarbeit Robert Wilsons kaum beschreiben, ohne die Kategorie des Schönen zu Hilfe zu nehmen. Jan Lauwers‘ Inszenierungen bestechen gleichfalls durch eine mysteriöse Schönheit, etwa hinsichtlich der Bühnengestaltung. Jan Fabre beschäftigt sich in seinen Inszenierungen mit der Schönheit von Körpern und dem Preis, der dafür bezahlt sein will, nämlich schmerzhafte, kraftraubende Konditionierung des Körpers.

Schönheit? – Ein Ereignis!

Schönheit ist in den Arbeiten dieser Künstler weit mehr als eine Zugabe. Und sie lässt sich auch nicht mithilfe gängiger Klassifizierungen beschreiben. Vielmehr regt der Umgang mit und das Nachdenken über Schönheit in ihrer Kunst dazu an, Schönheit neu zur Diskussion zu stellen. Schönheit kann dann nicht mehr allein mittels eines Regelwerks objektiver Schönheitskriterien erzeugt werden. Sie ist aber ebenso wenig „reine Geschmackssache“. Im Grunde genommen ist sie sogar weniger eine Wirklichkeit als eher eine Möglichkeit; ein Ereignis, das sich dann einstellt, wenn ihr auf rechte Weise der Boden bereitet wird. Edward Gordon Craig, einer der bedeutendsten Theaterreformer zu Beginn des 20. Jahrhunderts, hat dies folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Schönheit ist dann ein Zustand – eine Möglichkeit, die sich überall und jederzeit ereignen kann – man braucht nur die Scharfsinnigkeit, richtig hinzusehen” 3).
Katharina Wild

Katharina Wild,
freie Lektorin und Autorin, beschäftigt sich seit langem mit der Rolle der Schönheit in der zeitgenössischen Kunst, besonders im Theater. Die Theater-, Film- und Fernsehwissenschaftlerin promovierte 2008 zum Thema „Schönheit. Die Schauspieltheorie Edward Gordon Craigs“.

1) In kommenden Ausgaben veröffentlichen wir zwei weitere Beiträge zum Thema.
2) Brecht, Bertolt: „Lyrik und Logik“, in: ders.: Gesammelte Werke 19. Schriften zur Literatur und Kunst, Frankfurt am Main 1967, S. 386.
3) Craig, Edward Gordon: Daybook I, November 1908 to March 1910, EGC, Eintrag vom 6. März 1910, zit. n. Spieckermann, Thomas: The world lacks and needs a Belief, Trier 1998, S.30, übers. v. Katharina Wild

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2013 )
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