10. Juni 2009

Vergebung nach 28 Messerstichen

Von nst_xy

Im August 2008 wurde Reinhard Domig Opfer eines brutalen Raubüberfalls. Er überlebte, weil er dem Täter sagte, dass er ihm verzeihe.

Richtig fertig gemacht hat ihn nur seine Frau, sagt Reinhard Domig, und zwar mit ihrer Liebe. Und den, der ihn mit dem Messer fertig machen wollte, den hat Rein­hard Domig fertig gemacht, und zwar mit seiner Vergebung. – So könnte die Kurzversion der un­glaublichen Geschichte lauten, die der Vorarlberger Postbeamte Rein­hard Domig zu erzählen hat.
Gerade hat der Krankentrans­portdienst den 52-Jährigen nach Hause gebracht. Das 1992 gebaute Holzhaus der Domigs in Altenstadt, einem Ortsteil von Feldkirch, strahlt eine unkomplizierte Herzlichkeit aus. Aber an einen Rollstuhl haben sie seinerzeit nicht gedacht; an den engen Türen muss Reinhard die Hände von den Rädern nehmen.
Jetzt sitzt er am Tisch in der Stube – geschafft von der Physiotherapie, aber mit strahlendem Lächeln und leuchtenden Augen. „Also, es war der 22. August, letztes Jahr …”, legt er los, und man möchte ergänzen: … jener Tag, der Reinhard Domigs Leben veränderte. Doch das stimmt nicht. Es gab andere Tage, die Reinhards Leben eine neue Richtung gaben – viel­leicht mehr als jener 22. August.
Einer dieser Tage war, als Rein­hard Domig 1992 „die Karten aus der Hand legte”. Nach der Heirat mit Bernadette 1982 und der Geburt der drei Kinder, war Reinhard seit 1986 zu einem leidenschaftlichen Jasser geworden. Abend für Abend hatte er sich in der Dorfkneipe zu diesem Kartenspiel eingefunden, dem Vorarlberger Volkssport Nummer 1. „Und wenn ich dann spät nachts nach Hause kam, machte mir meine Frau immer noch etwas zu essen: eine Suppe, ein Gulasch, einen Salat.” Kein Vorwurf, kein Nörgeln, kein boh­rendes Fragen! „Die hat mich mit ihrer Liebe fix und fertig gemacht!” 1992 merkte er, dass es so nicht weitergehen konnte, und legte die Karten endgültig weg.
Zwei Jahre später folgte ein wei­terer einschneidender Tag: „Wir hatten eine kleine Krise”, berichtet er, und seine Frau schlug ihm vor, zu einer Tagung nach Hohenems zu fahren, einer Art Einkehrtag. Rein­hard willigte ein.

Beide waren aus der katholischen Jugend gekommen und deshalb offen für Anregungen zum christ­lichen Leben. Und sie erhofften sich wohl im Stillen einen neuen Impuls für ihre Beziehung.

Für Reinhard wurde der Tag zum Damaskus-Erlebnis. Es ging um die Liebe, darum, immer zu lieben, alle zu lieben, als erster zu lieben. Und dann fiel der Satz aus dem 13. Kapitel des ersten Korintherbriefs: „Die Liebe erträgt alles, glaubt alles, hält allem stand.” – „Innerlich bin ich zusammengebrochen”, be­richtet Reinhard. Er verstand, was seine Frau in seinen „Jasser”-Jahren für ihn gelebt hatte, und er spürte, dass er selbst so leben wollte.
Die Tagung war eine Begegnung der Fokolar-Bewegung, und Rein­hards Frau gestand ihrem Mann, dass sie seit ihrer Jugendzeit, aus der Spiritualität der Fokolare lebte -auch wenn sie keinen direkten Kon­takt mehr zu der Bewegung unter­hielt. Den suchte Reinhard jetzt und fand im Laufe der Jahre seinen Platz bei den so genannten „Freiwilligen Gottes”, Menschen, die die Spiri­tualität des Fokolars besonders im beruflichen und gesellschaftlichen Umfeld verwirklichen wollen.
Doch was heißt das? Reinhard Domig antwortet auf entwaffnend einfache Weise: „Im gegenwär­tigen Augenblick ganz in der Liebe zu sein.” Und er hat keine Mühe, diesen etwas floskelhaft wirkenden Ausdruck zu erklären: „Das be­deutet für mich: jedem Menschen mit derselben Aufmerksamkeit und Achtung zu begegnen, gleich ob er Jeans oder Krawatte trägt, und: dem Schmerz nicht auszuweichen.”
„Und das da hilft mir dabei!” Reinhard Domig deutet auf die Ablage der Eckbank, wo der Holz­würfel mit den Mottos der „Kunst zu lieben” liegt. „Alle lieben”, steht auf einer Seite, „als erster lieben” auf einer anderen und „die Feinde lieben”. Am 22. August letzten Jahres – daran erinnert er sich noch genau, war ihm am Morgen das Motto „Mit Taten lieben” ins Auge gesprungen. Mit diesem Vorsatz war er in sein Postamt gegangen. Es ist ein Freitag. Reinhard Domig ist allein im Postamt; nächste Woche wird die Kollegin aus dem Urlaub zurückkommen. Um 11.55, fünf Minuten vor Amtsschluss, kommt ein 35-jähriger Mann, den Reinhard als regelmäßigen Kunden kennt. Er hat sich schon am Vortag nach einem Handy erkundigt. Jetzt will er es noch einmal sehen. In Wirklichkeit hat er es wohl auf das Geld im Schalterbereich abgesehen. Reinhard verlässt den gesicherten Schalterraum und schließt die Vitrine mit den Handys auf. „Und da hab ich schon das Messer zwischen den Rippen gespürt.”
Was dann passiert, wird von den Überwachungskameras aufge­zeichnet und ist trotzdem bis heute nicht erklärlich. Mindestens 28 Stichverletzungen werden später gezählt. Reinhard Domig bekommt alles mit. „Hör bitte auf, ich bin noch zu jung zum Sterben”, sagt er, als der Täter kurz unterbricht, die Eingangstür zumacht und dann erneut zusticht.
Reinhard schließt mit seinem Leben ab – und sagt den Satz, der ihm das Leben rettet: „Ich verzeih dir, was du mir antust.” In diesem Moment gibt der Täter das Messer aus der Hand und flieht. Reinhard schafft es mit letzter Kraft auf die Straße, und den Leuten, die ihm zu Hilfe eilen, wiederholt er noch einmal: „Ich hab’s ihm ver­ziehen.”
Im Krankenhaus operieren sie elf Stunden lang. Arterien und Nerven sind durchtrennt, der linke Lungen­flügel ist zusammengebrochen, das Zwerchfell zerschnitten, der Herz­beutel verletzt. Nach ein paar Tagen folgt eine Blutvergiftung mit Organ­versagen. Reinhard Domig ist 33 Tage im Koma. Als er aufwacht, ist er zunächst vollständig gelähmt. Es folgen weitere Wochen auf der Inten­sivstation. Dreieinhalb Monate ist er im Krankenhaus, dann noch einmal so lange auf der Reha. 99 von 100 Menschen hätten das nicht überlebt, sagt der Gerichtsmediziner.
Die Folgen: Reinhard Domig ist erwerbsunfähig. Die linke Lungen­hälfte war nicht zu retten, die Lähmungserscheinungen sind zum Teil noch da. Die Ärzte machen ihm aber Hoffnung, dass er das Gehen wieder lernen kann. Trotzdem:

Dass er dem Täter vergeben hat, das hat er „keinen Moment bereut.”

„Ja, ich war zwischendurch auch mal wütend”, gesteht er, aber zu­rückgenommen hat er nichts. Im Gegenteil: Vor vier Tagen, bei der Gerichtsverhandlung gegen den Täter, hat er die Vergebung noch einmal ausgesprochen.
Die Kraft zum Durchhalten bekam Reinhard von vielen Seiten. Während er im Koma lag, besuchte ihn Bernadette jeden Tag – und nie war sie dabei alleine. Die Freunde aus der Fokolar-Bewegung, be­sonders die anderen „Freiwilligen Gottes”, knüpften ein dichtes Hilfsnetz: vom Besuchsdienst bis zu Haus- und Gartenarbeiten bei Domigs. Nicht einmal auf die wö­chentliche Zusammenkunft seines „Kernkreises” musste Reinhard verzichten. Die anderen drei aus seiner „Freiwilligen-Gruppe” trafen sich jede Woche mit Reinhard im Krankenhaus oder in der Reha.
„Eines muss ich noch sagen”, meint er kurz vor dem Abschied. Er scheut sich ein wenig, weil er fürchtet, dass ihn wegen dieser Aussage viele für verrückt erklären würden. „Aber ich denke, die Leserinnen und Leser der NEUEN STADT werden das ver­stehen: Ich bin dankbar für das, was passiert ist!”

Und dann zählt Reinhard Domig auf, was alles aus dieser Tat erwachsen ist: Er selbst ist zum Wesentlichen durchgestoßen; die Be­ziehung zu seiner Frau Bernadette ist noch tiefer geworden; mit seinen Kindern hat sich ein viel besseres Gesprächsklima entwickelt; die muslimische Gemeinde hat sich bei ihm entschuldigt, weil der Täter aus ihren Reihen kam; unzählige Menschen aus seiner Umgebung aber auch aus anderen Kontinenten haben von seinem Schicksal er­fahren, für ihn gebetet und sich bei ihm gemeldet; die Freunde der Fokolar-Bewegung in Vorarlberg sind noch enger zusammengerückt, „und wer weiß, was noch alles an Gutem aus dieser Tat hervorgehen wird. Ich bin wirklich dankbar.”
Joachim Schwind

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2009)
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