20. Januar 2009

Misstrauen trägt nicht

Von nst_xy

Ethische Fragestellungen schienen lange Zeit als etwas von Gestern. Doch in Zeiten von beschleunigtem Klimawandel und Finanzkrise, aber auch vor dem Hintergrund der Verunsicherungen in vielen Lebens-, Beziehungs- und Erziehungsfragen rückt die Wissenschaft vom rechten Handeln wieder ins Blickfeld. Im folgenden Beitrag befasst sich der frühere Mailänder Erzbischof Carlo M. Martini mit der oft gehörten Forderung nach mehr „Transparenz“ im gesellschaftlichen Handeln.

Als „transparent“ bezeichnet man einen lichtdurchlässigen Körper, durch den man hindurch
sieht auf das, was hinter ihm liegt. Transparent sind Wasser, Luft, Glas. In der Politik wie in der Wirtschaft wird heute viel von „Transparenz“ gesprochen: Man will Klarheit darüber, was sich beispielsweise hinter Worten von Politikern und hinter Zahlen von Bilanzen verbirgt.
Die häufige Verwendung des Begriffs macht deutlich, dass die Transparenz allzu oft vermisst wird. In politischen Programmen und Absichtserklärungen, in der Verwaltung, ja selbst in Rechtsnormen vermutet man versteckte Absichten oder auch Beschönigungen: Vielfach wird man den Verdacht nicht los, dass die Betreffenden anderes zu tun gedenken, als sie nach außen sagen, vielleicht auch, dass unsaubere Machenschaften oder illegale Geschäfte vertuscht werden sollen. Dennoch sollte man nicht davon ausgehen, dass sich hinter der Fülle von Worten und dem Wirrwarr von Normen und Gesetzen zwangsläufig unredliche Absichten verbergen. Viel von dieser undurchsichtigen Flut hängt schlicht mit dem zusammen, was die Soziologen eine „komplexe Gesellschaft“ nennen. Verschiedene Gruppen mit ihrer eigenen Sprache, unterschiedliche Systeme mit ihren je eigenen linguistischen Codes leben zusammen. Für den Nichtfachmann ist es daher oft schwierig, die Sprache zu verstehen, die in der Gesetzgebung, in der Finanzwelt, in der öffentlichen Verwaltung verwendet wird.
Gewiss wäre es unangebracht, dieser komplexen Gesellschaft mit generellen Verdächtigungen zu begegnen, als ob hinter jeder schwer verständlichen Norm oder hinter jeder unklaren Zahl einer Bilanz unlautere Absichten stecken oder irgendetwas geheim gehalten werden solle. Allgemeines Misstrauen ist kein tragfähiges Fundament für eine Gesellschaft. Selbstverständlich brauchen wir Wachsamkeit und aufmerksame Kontrollen. Doch wenn ein Minimum von Vertrauen fehlt, wenn das Misstrauen gegenüber allem und jedem zum Prinzip wird, zermürbt und untergräbt dies sehr schnell die zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen.
Bevor ein Verdacht geäußert oder eine nicht belegte Anschuldigung erhoben wird, ist der Sachverhalt unvoreingenommen zu prüfen. Es braucht den Mut, eventuell erforderliche Erklärungen einzufordern und von einem Politiker, von jemand aus der Verwaltung oder vom Gesetzgeber Auskunft zu verlangen, was womit gemeint ist, was die Intention ist, die hinter einer Äußerung oder einem Text steht.
Transparenz ist insbesondere von denen verlangt, die Verantwortung tragen. Dies hat einen tiefen Grund. Im Evangelium heißt es, dass der jenige sein Leben finden wird, der es verliert. Wer stets seine eigene Haut retten und sich bei jeder Gelegenheit rechtfertigen will, erweckt den Eindruck, um jeden Preis seine Interessen durchsetzen oder etwas verschweigen zu wollen. Wer hingegen seinen Nächsten liebt wie sich selbst und das Gemeinwohl, dem er sich verpflichtet weiß, über alles stellt, der wird schon durch sein Tun bezeugen, dass er keine versteckten Absichten verfolgt. Wenn wir solchen Menschen begegnen, schwindet das Misstrauen; neues Vertrauen keimt auf: Vertrauen, ohne das es keine gute Regierung und keine gute Verwaltung geben kann.
Transparenz, so möchte ich abschließend sagen, ist dort möglich, wo der ehrliche Wille vorhanden ist, sich aufrichtig in den Dienst der anderen zu stellen.
Carlo M. Martini

Aus: Carlo Maria Martini, Ohne Tugend geht es nicht. Was unsere Gesellschaft braucht, Verlag Neue Stadt 2009 (überarb. Neuausgabe von: Ders., Damit Leben stimmig wird. Orientierungen, Verlag Neue Stadt 2001), ISBN 978-3-87996-770-4. Bestellen

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2009)
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