Mit den Augen Gottes sehen
Voller Enthusiasmus begann Luzia Wehrle als 23-Jährige ihre Tätigkeit beim Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf. Alle zu lieben genügt, so war sie überzeugt, und die Einheit würde kommen. Heute schaut sie auf 40 Jahre geduldiger Kleinarbeit zurück. Sie hat gelernt, dass Gottes Zeiten anders sind.
Sie war 23 Jahre, als sie sich 1969 beim Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) in Genf vorstellte. Kurz darauf begann sie mit ihrer kaufmännischen Ausbildung als Sekretärin in der Bibliothek. „Ich sprach leidlich Französisch und Italienisch, aber viel zu wenig Englisch. Dreimal wollten sie mir deswegen kündigen,“ erinnert sich Luzia Wehrle an ihre Anfänge. „Aber für mich war das undenkbar, wo mich doch – so war ich überzeugt – Gott selbst hier hingeschickt hatte.“
Woher nahm die junge Schweizerin diese Überzeugung? Als die Fokolar-Gründerin Chiara Lubich 1967 zum ersten Mal beim ÖRK zu Gast gewesen war, hatte man sie gebeten, eine Fokolarin als Mitarbeiterin zu schicken. Die Wahl fiel auf Luzia Wehrle, und das war für die gebürtige St. Gallerin Grund genug, sich nun nicht einfach wieder wegschicken zu lassen! Ihre Vorgesetzten ermöglichten ihr deshalb einen Sprachaufenthalt in England und so konnte sie bleiben.
„Nun war ich überzeugt, dass ich nur zu lieben brauchte, und das Ideal der Einheit würde alle hier erreichen und die Ökumene beschleunigen,“ schmunzelt die 62-Jährige.„Eine Freundin ermahnte mich jedoch: ‚Du musst nur deine Arbeit verrichten und wie Maria immer wieder Jesus ins Licht rücken.’“ Mit anderen Worten: Sie sollte nicht von der Fokolar-Bewegung sprechen, sondern sich bemühen, die anderen, deren Arbeit und Bemühungen ins Licht zu stellen. Das war harte Geduldsarbeit für die enthusiastische junge Frau.
„Die Ökumene ging für mein Verständnis viel zu langsam voran,“ erinnert sie sich. Doch sie lernte in diesen Jahren, „dass wir Gott nicht vorgreifen dürfen, sondern ihm folgen müssen.“
„Gott folgen“ war für Luzia Wehrle nicht selbstverständlich. Mit drei Jahren hatte sie sich an einem Auge schwer verletzt und musste in der Folge oft in ärztliche Behandlung. „Das Spital war mein zweites Zuhause,“ erzählt sie. „Deshalb wollte ich Ärztin werden und nach Afrika gehen.“ Als Jugendliche musste sie erfahren, dass das mit ihrem Auge unmöglich war. „Eine Welt brach zusammen,“ erinnert sich Luzia. Sie stellte alles in Frage, wurde verschlossen und übellaunig.
Ihr Bruder Beda hatte in dieser Zeit die Fokolar-Bewegung kennen gelernt. „Er war ruhig und liebevoll, interessierte sich für mich. Ich provozierte und ärgerte ihn, wo ich konnte – ohne Erfolg.“ Ihre Krise überdeckte die Jugendliche mit Aktivitäten, ging viel aus und kleidete sich möglichst auffällig. „Doch nachts überkam mich regelmäßig eine große Leere.“ Bis es ihrem Bruder gelang, Luzia zu seinen neuen Freunden mitzunehmen. „Genau genommen hat er mich überlistet, sonst wäre ich nie mitgekommen!,“ schmunzelt sie. Nun löcherte die junge Frau alle mit ihren provozierenden Fragen. „Das ist ja schön und gut“, war ihr Fazit, „aber für mich unmöglich.“ Und trotzdem: Als sie nach Hause kam, ging sie zum ersten Mal nach langer Zeit wieder ins Zimmer der Mutter, mit der sie im Dauerclinch lag, um ihr ‚Gute Nacht’ zu sagen. „Meine Mutter fiel vor Überraschung fast aus dem Bett. In mir machte sich eine große Freude breit.“ Zaghaft versuchte sie, sich am Evangelium auszurichten. Vor allem jene Sätze sprachen sie an, in denen Jesus von der Liebe sprach.
Entscheidend für ihr Leben sollte ein schwerer Autounfall ihres Bruders werden. „Chiara Lubich kümmerte sich damals wie eine Mutter um ihn und überschüttete auch uns mit vielen kleinen Aufmerksamkeiten – das überzeugte mich”, sagt Luzia heute. Ebenso entscheidend war ihre eigene Krankheit: Mit 19 entdeckte man einen Tumor in dem bereits verletzten Auge. „Es musste entfernt werden”, erzählt sie. „Das war ein riesiger Schock.” Die Reaktion ihrer Freundin vom Fokolar nicht weniger: „Luzia, du kannst dein Auge Gott schenken!”, sagte sie. „Auch Jesus hat am Kreuz ‚warum’ geschrieen. Du bist ihm nun ganz nahe.” Das hat Luzia geprägt. Noch heute denkt sie jedes Mal, wenn sie ihre Augenprothese reinigen muss, dass es im Leben wichtiger ist, alles „mit den Augen Gottes zu sehen, als zwei gesunde Augen zu haben.”
In ihrer Tätigkeit beim ÖRK hat Luzia Wehrle verschiedene Abteilungen durchlaufen. Jetzt ist sie Assistentin eines Direktors in einer Abteilung, die auch eng mit dem Päpstlichen Rat für die Einheit der Christen zusammen arbeitet.
Wichtig waren ihr dabei immer die persönlichen Beziehungen, nicht nur zwischen den Kirchen.
„Eine junge Kollegin, die unzuverlässig arbeitete, habe ich mit kleinen Zeichen der Zuwendung unterstützt”, erzählt sie. So wuchs das Vertrauen, und die junge Frau gestand ihr, dass sie Drogen nahm. Zusammen mit ihrem Chef konnte Luzia der jungen Frau helfen, in einer anderen Stadt ein neues Leben zu beginnen.
Da die Katholische Kirche kein Vollmitglied beim ÖRK und nur in verschiedenen Arbeitsgruppen vertreten ist, war es eine der Aufgaben von Luzia Wehrle, immer wieder Brücken zu bauen.
Mehr als einmal konnte die engagierte Frau das tun, indem sie um Verständnis für die jeweils andere Position warb. „Ich konnte helfen, vieles erklären und alle Beteiligten ermuntern, das direkte Gespräch zu suchen”, blickt sie dankbar zurück.
„Oft habe ich aber auch an mir gezweifelt”, gesteht Luzia Wehrle. „Ich wollte die Früchte meiner Arbeit sehen. Doch immer wieder wurde mir klar, dass ich nichts erreichen, sondern für Gott und meine Mitmenschen einfach verfügbar sein musste.” Dass dann 2002 nach einem weiteren Besuch von Chiara Lubich in Genf eine intensive Zusammenarbeit zwischen dem ÖRK und der Fokolar-Bewegung insbesondere in den Bereichen Spiritualität, Politik und Wirtschaft entstand, freut sie deshalb umso mehr.
Im kommenden Oktober wird Luzia Wehrle pensioniert. Wer sie jedoch erlebt, kann sich nur schwer vorstellen, dass sie sich nicht auch weiterhin tatkräftig für die Ökumene engagieren wird.
Beatrix Ledergerber-Baumer
Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK)
im ÖrK sind 349 Kirchen und kirchliche Gemeinschaften aus über 110 Ländern und damit mehr als 560 Millionen Christen zusammen geschlossen. Die römisch-katholische Kirche ist nicht Mitglied, arbeitet aber seit mehr als vier Jahrzehnten eng mit dem ÖrK zusammen. Ziel des ÖrK ist es, die Gemeinschaft zwischen christlichen Kirchen und Gemeinschaften zu vertiefen, damit sie einander als authentische Ausdrucksformen der „einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche” erkennen können. auf dieser Grundlage sollen sie gemeinsam den apostolischen Glauben bekennen, in der Mission und in humanitären Hilfsprogrammen zusammenarbeiten und, wenn möglich, die Sakramente miteinander teilen. Erste Kontakte zwischen der Fokolar-Bewegung und dem ÖrK ergaben sich während des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 – 1965). danach wurde Chiara Lubich, die Gründerin der Fokolar-Bewegung, 1967 zum ersten Mal an den Hauptsitz nach Genf eingeladen. Es folgten weitere Besuche 1982 und 2002. „Daraus entstanden vielfältige Kontakte”, erklärte ÖRK-Direktor Martin Robra im März 2008. „die Spiritualität der Einheit war Chiara Lubichs Geschenk für die Ökumene.”
(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März 2009)
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