10. Mai 2009

Wort des Lebens – Mai 2009

Von nst_xy

„Dient einander als gute Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes, jeder mit der Gabe, die er empfangen hat.“ (Erster Petrusbrief 4,10)

Edith ist von Geburt an blind. Sie lebt mit anderen Blinden in einem katholischen Heim, dessen Geistlicher gelähmt ist und nicht mehr Gottesdienst feiern kann. Deswegen soll auch die geweihte Hostie nicht mehr in der Kapelle aufbewahrt werden.
Edith wendet sich an den Bischof mit der Bitte, Jesus in der Eucharistie möge bei ihnen bleiben – das einzige Licht in ihrer Dunkelheit. Sie bekommt eine Zusage und sogar die Erlaubnis, dem Hausgeistlichen und anderen im Heim die Kommunion zu bringen.
Edith möchte sich auch sonst nützlich machen. Sie hat bei einem Radiosender einige Stunden Sendezeit bekommen. Sie will das weitergeben, was sie zu geben hat: einen Rat, Anstöße zum Nachdenken, Klärung in ethischen Fragen. So stützt sie die Leidenden mit ihrer Erfahrung. Manches mehr wüsste ich von Edith zu erzählen. Sie ist zwar blind, doch gerade das Leid hat sie sehend gemacht.

Von vielen anderen Beispielen dieser Art könnte ich berichten. Es gibt das Gute, doch es macht keinen Lärm. Edith lebt einfach als Christin. Sie weiß, dass jeder Mensch Gaben bekommen hat, und sie stellt ihre Gaben in den Dienst der anderen. Mit Gaben (oder Charismen, wie es im Griechischen heißt) sind nicht nur jene Gnaden gemeint, mit denen Gott diejenigen beschenkt, die in der Kirche eine leitende Aufgabe haben. Es geht auch nicht nur um außergewöhnliche Gaben, die Gott – zum Wohle aller – einzelnen Gläubigen zuteilwerden lässt, wenn in außergewöhnlichen Situationen oder schweren Gefahren der Kirche Abhilfe geschaffen werden muss und die vorhandenen kirchlichen Institutionen dafür nicht ausreichen. Solche Gaben können sein: die Weisheit, die Erkenntnis, die Fähigkeit, Wunder zu wirken oder in Zungen zu reden oder auch das Charisma, in der Kirche eine neue Spiritualität zu wecken.

Als Gaben und Charismen darf man auch die einfachen Begabungen vieler Menschen betrachten; man erkennt sie daran, dass sie Gutes hervorbringen. Durch sie wirkt der Heilige Geist.
Auch die Talente, die uns von Natur aus gegeben sind, kann man als Gaben oder Charismen bezeichnen. In diesem Sinn ist jeder Mensch begabt.
Wie sollen wir diese Gaben gebrauchen? Überlegen wir uns, wie wir sie Frucht bringend einsetzen können! Sie sind uns nicht nur für uns selbst gegeben, sondern auch zum Wohl aller.

„Dient einander als gute Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes, jeder mit der Gabe, die er empfangen hat.“

Die Vielfalt der Gaben ist unerschöpflich. Jeder Mensch hat eigene Gaben bekommen und deshalb auch seine unverwechselbare Aufgabe für die Gemeinschaft.

Es geht darum herauszufinden, welche das sind. Wer eine gute Ausbildung genossen hat, könnte sich für einige Stunden in der Woche zur Verfügung stellen, um Menschen zu helfen, die keine Bildung oder keine Mittel zum Studieren haben.
Wer ein großzügiges Herz hat, könnte andere gewinnen, sich zugunsten der Armen und Ausgestoßenen einzusetzen, damit viele wieder ein Gespür für die Würde des Menschen bekommen.
Manch einer besitzt die Gabe, anderen im Leid beizustehen. Andere wiederum haben praktische Fähigkeiten wie die, Haus- und Näharbeiten oder handwerkliche Arbeiten zu verrichten. Sie werden schnell jemanden finden, der sie braucht.

Es tut weh festzustellen, dass es Menschen gibt, die ihre freie Zeit nur für sich selbst verwenden. Wir Christinnen und Christen sollten uns nicht zufriedengeben, solange es auf Erden auch nur einen Menschen gibt, der krank ist, der hungert, der im Gefängnis ist, der unwissend ist, der zweifelt, der traurig ist, der von Drogen abhängig ist, der verwaist ist oder den Ehepartner verloren hat.
Auch das Gebet ist eine wunderbare Gabe, die es zu nutzen gilt. In jedem Augenblick können wir uns an Gott wenden, der überall gegenwärtig ist.

„Dient einander als gute Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes, jeder mit der Gabe, die er empfangen hat.“

Stellen wir uns eine Kirche vor, in der sämtliche Christen – jung und alt – ihre Gaben den anderen zur Verfügung stellen. Die gegenseitige Liebe bekäme eine solche Beständigkeit, eine solche Weite und eine solche Kraft, dass andere daran die Jünger Christi erkennen könnten.
Wenn das so ist, warum setzen wir nicht alles daran, um dahin zu gelangen?
Chiara Lubich
Erstmals veröffentlicht in: NEUE STADT, Januar 1979

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2009)
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