10. Juni 2009

Wir leben noch!

Von nst_xy

Das Erdbeben am 6. April in den mittelitalienischen Abruzzen hat nicht nur die Häuser, sondern auch das Leben der Menschen dort erschüttert.

Wie das sei, wenn die Erde bebt? „Wie? Das weißt du nicht?” Anna Lucia Botticchio kann ihr Erstaunen nicht verbergen. Sie kommt aus Pescina, einem kleinen Ort in den Abruzzen. „60 Kilometer von L’Aquila”, sagt sie – als wäre damit alles gesagt. Es ist Anfang Mai. Fast vier Wochen sind seit dem Erdbeben vergangen, das die mittelitalienische Region nordöstlich von Rom am 6. April erschüttert hat.
Die Italienerin ist zu einer Tagung der Fokolar-Bewegung in Deutschland, und die Frage ihrer
Gesprächspartnerin hat sie über­rascht. Wenig später nimmt sie ein Glas von der Theke, an der sie steht, und stellt es auf eine Untertasse. Sie hält es ihrem deutschen Gegen­über unter die Nase und zittert ein wenig mit der Hand: Weil das Glas nicht genau auf die Untertasse passt, wackelt es bedenklich und klappert. „So!”, sagt sie einfach. „So ist das, wenn die Erde bebt!” Gerade habe sie ihre Mutter am Telefon gehört, und auch gestern sei das wieder so gewesen.
Noch immer gehören Nach­beben in der Region zum Alltag,
„nicht so schwer und nicht so lang” wie vor drei Wochen, „aber sie sind noch da”, unterstreicht die Endvierzigerin aus den Ab­ruzzen. „Ohne Vorankündigung! Wie aus dem Nichts wackelt dann alles: das Haus, die Möbel, das Geschirr darin, du selbst!” Wäh­rend sie das sagt, legt Anna Lucia sich die Hand auf den Bauch und sagt: „Du spürst es überall – und du kannst nichts tun!”
An die Nachbeben gewöhnt man sich offensichtlich nicht. Jedes Mal kommt dann auch die lähmende Angst wieder und die Erinnerung an jenen verheerenden Stoß um 3.32 Uhr morgens. Das geht an die Substanz: Je länger es dauert, um so mehr liegen auch die Nerven blank, und je häufiger die Erde bebt, um so mehr leiden darunter auch jene Gebäude, die bisher noch einigermaßen glimpflich davon gekommen schienen: Die Risse werden tiefer und die Einsturzge­fahr wächst. Deshalb wissen auch fast vier Wochen danach Tausende Menschen nicht, wann sie wieder in ihr Zuhause zurück können. Aus Angst, dass die Häuser einstürzen, leben nach wie vor viele auf der
Straße, haben eine Unterkunft bei Verwandten gefunden oder sind in Zeltlagern und Notunterkünften untergebracht.
Offiziellen Angaben zufolge forderte das Beben in der Nacht vom 5. auf den 6. April 2009 296 Menschenleben, rund 1500 Men­schen wurden verletzt und mehr als 55 000 obdachlos. Auf der Richter­skala wurde es mit einer Stärke von 5,8 bis 6,3 beziffert. Der heftige Erdstoß in der mittelitalienischen Region hat in wenigen Sekunden alle und alles durcheinander gebracht: Menschen und Häuser,
Beziehungen, Erinnerungen und Träume.
Das Beben hat aber auch eine großzügige Solidarität zum Vor­schein gebracht. „Es gab keinen in den Abruzzen, der sich nicht auf irgendeine Art einsetzte,” erzählt Anna Lucia Botticchio. Es gab lange Listen mit freiwilligen Helferinnen und Helfern; in fast jedem Ort der Region wurden Sammelstellen für Materialspenden eingerichtet. Die Hilfskräfte – auch aus dem Ausland und anderen Regionen Italiens – waren in den ersten Tagen nach dem Beben Tag und Nacht im Einsatz.
Zu ihnen gehörte auch Umberto Paciarelli, der Chefgrafiker der ita­lienischen Schwesterzeitschrift der Neuen Stadt. Er war als Helfer des Zivilschutzes vor Ort und berich­tete von seinem aufreibenden und anstrengenden Einsatz:

„L’Aquila ist ein Trümmerhaufen. Aber es schienen auch alle Vor­urteile, Erwartungen und jede Form von Überheblichkeit wie ein Kartenhaus in sich zusammen­gefallen zu sein.

Zum Vorschein kam so viel Mit­menschlichkeit, als wäre nur noch der reine und gute Kern des Men­schen übrig geblieben. Das war viel mehr als nur Solidarität: Mensch­lichkeit strahlte dort in ihrer ganzen Größe und Schönheit auf.” Erleichterung und Erschütterung lagen nah beieinander in jenen Tagen. So etwa auch als Umberto Paciarelli und andere Rettungs­kräfte nach 14-stündigem, uner­müdlichem Einsatz eine Jugend­liche lebend aus den Trümmern eines völlig eingestürzten Hauses im Zentrum von L’Aquila bargen,
und wenig später den Eltern eröffnen mussten, dass drei andere ihrer Kinder unter denselben Trüm­mern umgekommen waren.
Manche haben einen Angehö­rigen verloren, in anderen Fällen wurden ganze Familie ausgelöscht. Aber auch jene, die überlebt haben und jetzt ohne Hab und Gut in den Zeltstädten leben, müssen „ganz von vorn anfangen”. Eine ältere Frau aus einem dieser Lager er­zählte: „Nach den Enttäuschungen an der Börse hatten wir unsere gesamten Ersparnisse in Häusern angelegt. Wir hatten drei hier in der Stadt. Und nur von einem sind noch das erste Stockwerk und ein paar Mauern übrig geblieben. Aber”, so fügt sie erleichtert hinzu, „wir sind noch am Leben!”
„Wir leben noch!” – Das war und ist die frohe Kunde, die in den ersten Tagen und bis heute wie eine Zauberformel durch die Zeltstädte der Region geht.
„Das ist eine Erfahrung, die alles verändert”, erzählt die Studentin Marta Di Giovanni (19). „Nur Gott bleibt! Das wusste ich. Das glaubte ich. Aber jetzt habe ich es
am eigenen Leib erlebt!” Sie blieb unversehrt, obwohl auch ihr Stu­dentenwohnheim sehr betroffen war. „Was nutzt es, das Leben zu planen? Jetzt lebe ich von einem Tag zum anderen, mehr noch: Ich lebe einen Augenblick nach dem anderen.”
Chiara Salvatorelli ist 24 Jahre alt. Sie studiert Zahnmedizin und erinnert sich noch gut an eines der vorangegangenen Beben, um 22.45 Uhr. Sie war gerade am Telefon mit Lisa aus einem anderen Studenten­wohnheim: Was für ein Schreck! Alle anderen Studentinnen der beiden Wohnheime hatten L’Aquila schon verlassen. Chiara und Lisa waren allein in zwei Häusern. Sie beschlossen, in einem Haus zu schlafen: „Soll ich zu dir kommen? Kommst du zu mir?” Ein Glück, dass Chiara zu ihrer Freundin ging. Chiaras Wohnheim lag in der Straße „XX. settembre”, in der fast alle Häuser eingestürzt sind.
Seit Januar bebte die Erde. Und Chiara Salvatorelli erzählt: „Wir hatten uns so daran gewöhnt, das es fast eigenartig war, wenn sie gerade einmal nicht bebte.” Das bestätigt auch Marco Pochetti, ein Student aus Norditalien, und erin­nert sich, dass schon am Montag, 30. März, die Beben „eine ganz ordentliche Stärke” hatten. Am Tag danach waren deshalb die Schulen geschlossen. „Es ist schon richtig, dass man keine voreiligen Alarme auslösen sollte und alles dafür tun muss, unnötige Panik zu vermeiden,” unterstreicht er und bezieht sich damit auf die nun heftig geführten Diskussionen, wann man hätte evakuieren sollen, oder was man im Vorfeld hätte tun können, um das Unglück zu ver­meiden. „Uns Studenten hätte man nach Hause schicken können,” ist Marco überzeugt. „Zu viele sind gestorben!”

Leben ist ein Geschenk, ein Glück und eine Verantwortung. Das ist die Botschaft der Menschen aus den Abruzzen, die jetzt unter großen Mühen ihr Leben langsam wieder neu beginnen.

Zu ihrer Unterstützung sind nach wie vor viele Hilfskräfte im Ein­satz, die bei den Aufräumarbeiten helfen. Darüber hinaus haben Behörden, Kirche und Caritas in der Erdbebenregion auch psycholo­gische Hilfsdienste eingerichtet. Denn auch wer überlebt und keine Angehörigen verloren hat, muss die Nebenwirkungen des Bebens ver­arbeiten. Das kann Monate dauern. Die Symptome sind vielfältig: Angstzustände, Schlaflosigkeit, Unsicherheit und Antriebslosigkeit. „Das Trauma zu überwinden”, so der Neurologe und Psychiater Giuseppe Riccio, der in einem der Zelte arbeitet, „ist langwierig, aber nicht unmöglich. Allerdings können das die Therapeuten und Ärzte nicht allein leisten.

Das Wichtigste sind Beziehungen. Deshalb ist es auch so tröstlich, dass durch große und kleine Gesten immer wieder Zeichen der mensch­lichen Nähe hier ankommen.”

Anna Lucia Botticchio fährt am Ende ihrer Tagung wieder zurück nach Italien, in die Abruzzen. „Ich bin froh, dass ich ein paar Tage Abstand hatte”, sagt sie. „Ich konnte einmal tief durchatmen.” Ob sie Angst habe? „Ja. Die kann dir keiner nehmen; in meiner Heimat kann es immer wieder Erdbeben geben. Und der Schock steckt noch tief. Aber mein Leben kann ich nur dadurch erdbeben­sicher machen, dass ich mich Tag für Tag dem stelle, was gerade dran ist. Denn morgen könnte es dafür schon zu spät sein.”
Paolo Loriga, Gabi Ballweg

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2009)
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