10. Juni 2009

Das Geheimnis des Lebens

Von nst_xy

Nicht bewundernswert sollen sie sein, die „Leute”, die wir in der gleichnamigen Rubrik jeden Monat porträtieren, son­dern nachahmenswert.

Denn die NEUE STADT versteht sich – im wahrsten Sinn des Wortes – als „Lifestyle”-Magazin, als eine Zeit­schrift also, die einen Lebensstil abbildet und zugleich ihre Lese­rinnen und Leser dazu einladen will, sich diesen Lebensstil zu eigen zu machen.
Nachahmen, statt bewundern! Das scheint auf den ersten Blick geradezu unmöglich, wenn man die Geschichte des Vorarlberger Postbeamten Reinhard Domig liest. Was anderes als Be­wunderung sollte man empfinden, wenn man hört, dass jemand, der brutal niedergestochen wurde und sein noch zu junges Leben zu Ende gehen weiß, dem Täter ver­gibt? Und so sehr sich mancher im Stillen vielleicht wünschen mag, im Ernstfall selbst so reagieren zu können: Wirklich in die Lage kommen, Reinhard Domig nach­ahmen zu können, möchte man dann doch lieber nicht.
Und doch täte man Reinhard Domig gewaltig Unrecht, wenn man ihn bewunderte – und vor allem, wenn man bei der Bewun­derung stehen bliebe. Reinhard Domig versteht sich nicht als Held und will – um Gottes willen – nicht als solcher behandelt werden. Es gab, wie er erzählte, lange vor der Messerattacke einige wirk­lich einschneidende Momente, in denen er durch einen inneren Schritt seinem Leben eine andere Richtung gegeben hat. Aber jedes Mal unterstrich er sofort, wem er diesen oder jenen Schritt zu ver­danken hatte.
Und die Sache mit der Ver­gebung? „Ich weiß nicht, woher das kam”,  sagte er in unserem Gespräch, um dann sofort auf das Motto zu sprechen zu kommen, das ihn am Tag des Messerüber­falls begleitete: „mit Taten lieben”. Daran hat er auch gedacht, als er immer wieder das Messer zwischen die Rippen bekam und schließlich zu dem Täter sagte: „Ich verzeih dir, was du mir antust.”
Hinter der Praxis mit dem Motto, das sich Reinhard Domig täglich wählt, steckt ein Grundton, der sich durch das Leben des Vorarl­bergers zieht: „Im gegenwärtigen Augenblick ganz in der Liebe sein”, nennt er ist dieses „einfache” Leitmotiv. Und auf meine Bitte um eine Erläuterung sagte er: „Das be­deutet für mich: jedem Menschen mit derselben Aufmerksamkeit und Achtung zu begegnen, gleich ob er Jeans oder Krawatte trägt, und: dem Schmerz nicht auszu­weichen.”
Diese so schlicht daher kom­mende Formulierung enthält meines Erachtens das Geheimnis des Lebens: die Liebe und den Schmerz und die Tatsache, das beides zusammengehört, und dass das eine erst mit dem anderen seine Berechtigung, seinen Sinn, seine Erfüllung findet.
Reinhard Domig ist ein Mensch, der – Augenblick für Augenblick -zu lieben versucht und in diesem Bemühen den Schwierigkeiten und dem Schmerz nicht aus­weichen möchte. Die Fähig­keit, Schlimmstes zu vergeben, wächst offensichtlich auf diesem Bemühen. So einfach kann das Leben sein! Bewundernswert? Ja! Nachahmenswert? Auf jeden Fall!
Ihr
Joachim Schwind

Dass die christliche Liebe über das Menschliche hinausgeht, zeigt sich besonders in der Feindesliebe, in der umsonst gewährten Vergebung. Dazu bedarf es etwas Größerem, einer Kraft, die uns nur aus dem Kreuz Christi zuwächst. Die göttliche Liebe entlarvt alle Fehlformen und Irrwege menschlicher Liebe, in die sich Egoismus, die Suche nach sich selbst eingeschlichen haben.
Aus: Carlo Maria Martini, Ohne Tugend geht es nicht, Verlag Neue Stadt 2009. Bestellen

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2009)
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