Die Schweiz braucht die Europäische Union
Ein Schweizer Blick auf die Europawahlen
zeigt, wie eng die Verflechtungen sind – weit über den wirtschaftlichen Aspekt hinaus.
Während die Schweiz kein Mitglied der Europäischen Union (EU) ist, bleibt sie doch untrennbar mit dem Schicksal des Kontinents verwoben. Die anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament sind ein prägnantes Beispiel für diese tiefgreifende Verbindung. In der Schweiz leben 1,5 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger. Dazu kommen Tausende Doppelbürgerinnen und -bürger, also Menschen, die neben der Schweizer auch die Staatsangehörigkeit eines EU-Landes haben. Damit ist fast ein Viertel der in der Schweiz lebenden Bevölkerung berechtigt, an den Europawahlen ihre Stimme abzugeben. Diese beeindruckende Zahl verdeutlicht die soziale und gesellschaftliche Verflechtung, die zwischen der Schweiz und der Europäischen Union und ihren einzelnen Mitgliedstaaten besteht, und hebt hervor, wie globalisierte Lebenswege die politische Landschaft Europas formen.
Dazu kommt, dass die Schweiz und die EU wirtschaftlich sehr eng miteinander verbunden sind: Gemessen am Handelsvolumen, ist die EU die größte Handelspartnerin der Schweiz. Umgekehrt ist die Schweiz für die EU die viertgrößte Handelspartnerin nach den USA, China und dem Vereinigten Königreich. Dies ist besonders relevant im Lichte der bilateralen Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU, die am 18. März 2024 in eine neue Phase getreten sind. In diesen Verhandlungen geht es darum, die der bilateralen Verträge weiterzuentwickeln, die vor allem die Teilnahme der Schweiz am EU-Binnenmarkt regeln. Je nachdem, wie die Europawahlen ausgehen, wird das die Verhandlungen erleichtern oder erschweren. Diese Verträge sind entscheidend für das wirtschaftliche Wohlergehen des Landes und unterstreichen, wie eng die Schicksale der Schweiz und der EU miteinander verknüpft sind. Die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments nach den Wahlen wird maßgeblich die politische Richtung bestimmen, in die sich die EU bewegen wird. Dies betrifft Themen wie Handelsabkommen, Umweltschutz und digitale Transformation, die für die Schweiz von größtem Interesse sind. Die politische Ausrichtung Europas hat unmittelbaren Einfluss auf die Schweiz, da sie in diesen Schlüsselbereichen eng mit der EU zusammenarbeiten möchte und muss. Der Ausgang dieser Wahlen könnte somit wegweisend für die zukünftige wirtschaftliche Landschaft Europas und die Rolle der Schweiz darin sein.

Nicht zu unterschätzen ist auch die Sicherheitspolitik als ein Feld, in dem die Europawahlen indirekte, aber bedeutende Auswirkungen auf die Schweiz haben können. Angesichts der zunehmenden globalen Unsicherheiten und Bedrohungen ist eine starke und geeinte europäische Antwort essenziell. Die Schweiz, obwohl sie außerhalb der EU-Strukturen steht, ist dennoch Teil des europäischen Sicherheitsgefüges und profitiert von dessen Stabilität. Die Wahlen werden mitbestimmen, wie Europa seine Rolle in der Welt gestalten und wie es auf Bedrohungen reagieren wird, was auch für die Schweiz von großer Bedeutung ist.
Ein weiteres bedeutendes Phänomen, an das ich im Kontext der Europawahlen denke, ist das Erstarken Europa-kritischer Parteien und Bewegungen in den letzten Jahren. Diese Gruppierungen zeichnen sich oft durch populistische Ansätze aus, die auf komplexe weltpolitische Herausforderungen vermeintlich einfache Antworten anbieten. Ein geschwächtes Europa, das sich internen Spaltungen hingibt und durch populistische Rhetorik von seinen grundlegenden Werten und Zielen abgelenkt wird, ist in der heutigen geopolitischen Landschaft für niemanden wünschenswert – am allerwenigsten für die Schweiz. Als Land inmitten Europas und als enge Partnerin der EU ist die Schweiz auf ein starkes und vereintes Europa angewiesen, um die gemeinsamen Herausforderungen wie Sicherheit, Migration, Klimawandel und wirtschaftliche Stabilität zu bewältigen.
Die europäische Integration und die Frage, wie die EU ihre Beziehungen zu nicht-Mitgliedstaaten wie der Schweiz gestaltet, sind also von zentraler Bedeutung. Die Europawahlen könnten neue Impulse dafür geben, wie die Beziehungen zwischen der EU und ihren Nachbarn gestaltet werden. Eine stärkere Einbindung der Schweiz in europäische Projekte und Initiativen könnte eine der positiven Entwicklungen sein, die sich aus einem konstruktiven Wahlresultat ergeben. Gleichzeitig müssen die Herausforderungen, die mit einer engen Zusammenarbeit verbunden sind, wie die Wahrung der nationalen Souveränität und die Achtung der direktdemokratischen Traditionen der Schweiz, sorgfältig abgewogen werden.
Ich denke aber auch an die kulturelle und gesellschaftliche Dimension. Die EU, deren Mitgliedstaaten, die Schweiz und damit alle Europäerinnen und Europäer profitieren enorm von den kulturellen Austauschprogrammen, der Bildungszusammenarbeit und der Forschungsförderung innerhalb Europas. Die Ausrichtung der EU in diesen Bereichen könnte durch die neuen parlamentarischen Mehrheiten beeinflusst werden. Ich finde es wünschenswert, dass die Europawahlen Ergebnisse hervorbringen, die den Fortbestand dieser fruchtbaren Zusammenarbeit unterstützen. Ein Europa, das in Bildung und Kultur investiert, stärkt die gesamteuropäische Gemeinschaft, von der die Schweiz ein integraler Bestandteil ist.
Die Bedeutung der Europawahlen für die Schweiz erstreckt sich somit weit über die unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen hinaus. Sie betrifft die politische Ausrichtung Europas, kulturelle und bildungspolitische Kooperationen, Sicherheitspolitik und die Werte der Demokratie. Aus all diesen Gründen verfolge ich wie viele meiner Landsleute die Entwicklungen und Ergebnisse der Europawahlen mit großer Aufmerksamkeit und Spannung. Nur eine starke und geeinte Europäische Union kann die Herausforderungen der heutigen Zeit meistern und ein stabiles, prosperierendes und friedliches Europa sicherstellen, von dem auch die Schweiz profitiert.
Ich wünsche mir, dass möglichst viele Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union die Chance wahrnehmen, wählen zu gehen und ihr Wahlrecht dafür einsetzen, um die Zukunft Europas aktiv mitzugestalten.
Diego Bigger
Diego Bigger, geboren 1986, ist Rechtsanwalt, wohnt in Zürich und war in seiner Heimatstadt Bern bis Ende 2023 auch politisch tätig.
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Mai/Juni 2024.
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