Was bewahren? Wie erneuern?
Was machen Veränderungen mit uns?
Verunsichern sie? Sind sie eine Chance? Lassen wir sie widerstandslos über uns ergehen oder packen wir sie bewusst an?
Zwanzig Monate Zivildienst hatte ich hinter mir. Ich hatte vor, ein halbes Jahr in einem internationalen Jugendzentrum in Italien zu verbringen, wusste aber nicht, was mich dort genau erwartet. Danach wollte ich studieren, konnte mich für meine Fächer bei vier Universitäten in Deutschland bewerben, aber ob und wo ich angenommen würde, war völlig offen. Vor der Abreise stand ich mit meinem Rucksack auf dem Bahnhof, allein, plötzlich überwältigt: Kindheit, Schulzeit, Zuhause lagen hinter mir; vor mir die Zukunft, das Neue – vielversprechend und verheißungsvoll, aber auch unbekannt und unsicher. Mein Eindruck in diesem Moment: Ich hatte nichts mehr – und alles stand mir offen, ich fühlte mich verloren und doch auch geborgen – in der Sicherheit, die mir mein Glaube gab.
Veränderungen passieren. Man kommt in den Kindergarten, die Schule. Man trifft diese Menschen und nicht andere, wird älter, bekommt Falten, graue Haare, geht in Rente. Krankheiten, Schicksalsschläge. Jahreszeiten, technischer Fortschritt, Klimawandel, … Veränderungen, mit denen wir umgehen müssen.
Es gibt aber auch jene, die wir bewusst anstreben, gestalten wollen oder zumindest beeinflussen können: Job- oder Wohnortwechsel, welchen Modetrend wir mitgehen, welche Beziehungen wir pflegen, ob wir Ferien machen und wie wir sie verbringen.
In meinem Jugenderlebnis kommt beides zusammen: Die Schulzeit endet nun einmal irgendwann und die weitere Ausbildung steht an – aber welchen Beruf ich ergreife, ob und was ich studiere, wie ich den Übergang gestalte und mit wem, liegt auch in meiner Hand.
Es ist menschlich, dass loslassen schwerfällt. Die 2004 verstorbene schweizerisch-US-amerikanische Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross hat fünf Trauer-Phasen beschrieben, die Menschen durchleben. Sie beziehen sich auf die Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit oder die Nachricht vom Tod eines nahestehenden Menschen, spielen aber auch im Umgang mit anderen bedeutenden Veränderungen eine Rolle: Die Person leugnet die Nachricht, sucht Gründe, warum sie nicht stimmen kann, will sie nicht wahrhaben. Sie fragt sich „Warum ich?“, spürt Zorn und überträgt ihn auf andere. In einer kurzen, inneren Phase versucht sie, um eine Verbesserung der Situation zu verhandeln – beispielsweise mit Gott. Zorn und Verzweiflung gehen in Depression und Leid über. In der letzten Phase wird die schmerzliche Situation akzeptiert.
Ob es um existenzielle oder unscheinbarere Veränderungen geht: Nach einer Veröffentlichung der American Psychological Association von 2020 ergaben mehrere Studien, dass es Menschen leichter fällt, sich von etwas oder jemandem zu lösen, wenn sie das Gefühl haben, es konnte „abgerundet“ abgeschlossen werden. Dass also alles getan wurde, was möglich war, um die Beziehung oder das Erlebnis gut zu Ende zu bringen. Ein harmonisches Abschließen führte zu weniger Bedauern und erleichterte den Übergang in die neue Phase – unabhängig davon, ob das Ende von außen auferlegt oder aus eigenem Antrieb gewählt war.
Veränderungen, die mich betreffen, wirken sich auch auf andere aus. Wer den Wohnort oder Job wechselt, wird Nachbarn und Kollegen zurücklassen, die diese Person vermissen – oder aber sich freuen, dass sie gegangen ist. Wer eine neue Aufgabe übernimmt, wird eine andere ehrenamtliche Arbeit reduzieren müssen. Damit bleibt sie liegen oder andere werden in die Bresche springen und mehr tun müssen. Wer auf einen Wandel aus ist, sollte sich daher fragen, welche Folgen seine Idee für andere hat, und sie rechtzeitig informieren oder am besten mit einbeziehen. Sieht eine Arbeitsgruppe, Firma oder eine Organisation Veränderungsbedarf, sind viele Menschen davon betroffen. Sie können sich von „Transformationsbegleitern“ oder „Change-Managern“ helfen lassen.
Wie ein Veränderungsprozess unterstützt werden kann, damit er zu guten Lösungen führt und möglichst von allen Beteiligten mitgetragen wird, dafür gibt es viele Theorien und Modelle. Eines davon hat den Namen ADKAR, abgeleitet aus den Kürzeln der englischen Begriffe Awareness (Bewusstsein), Desire (Wunsch), Knowhow (Wissen, Kompetenz), Ability (Fähigkeit) und Reinforcement (Verstärkung).
1. Anfangs braucht es ein Bewusstsein für den Veränderungsbedarf: Wo besteht ein Leidensdruck? Hier sollte über die Probleme informiert und die Möglichkeit gegeben werden, sie zu diskutieren.
2. Lust auf Veränderung hilft. Dafür braucht es eine Vision: Wovon wollen wir weg und wohin wollen wir kommen? Worin liegen die Vorteile? Wie lassen sich Bedenken überzeugend entkräften?
3. Um das Neue bewältigen zu können, brauchen die Beteiligten Wissen und Kompetenz. Dafür müssen sie geschult werden.
4. Dazu wiederum sind Rahmenbedingungen nötig: Technik und Budget, um sich die Fähigkeiten erwerben zu können.
5. Ein einmaliger Anschub reicht nicht, damit eine Veränderung durchträgt. Erinnern, nachhaken, Feedback geben, verstärken, „dranbleiben“ sind erforderlich. – Modelle wie dieses dienen dazu, Veränderungsprozesse zu strukturieren, umzusetzen, ihre Auswirkungen abzuschätzen und mögliche Hindernisse auszumachen.
Beides steckt in den Menschen: das Bedürfnis nach Stabilität und Sicherheit und jenes nach Neuem, Entwicklung, Veränderung. Bei einzelnen Personen überwiegt das eine oder andere. Manche räumen häufig ihre Wohnung um, sind kreativ, wollen immer Neues, wollen Entwicklung sehen. Andere sind ganz das Gegenteil: Alles soll am liebsten immer so bleiben wie es ist. Keines von beiden ist richtig oder falsch. In der Auseinandersetzung, im Offenlegen der Bedürfnisse und Ziele, im Sich-erklären und Aufeinander-hören lässt sich Veränderung gestalten – können sich neue Wege eröffnen, die beide Seiten mitgehen können.
Clemens Behr
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Der Artikel oben ist erschienen in der NEUEN STADT, Mai/Juni 2024.
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