8. November 2009

Die Zeichen der Zeit

Von nst_xy

Zur Erinnerung an den Fall der Berliner Mauer 9. November 1989

Die Welt hat sich verändert.
Weltenwende! Zeitenwende!
Die Zeichen der Zeit –
und du willst sie nicht sehen?

Wie lange hast du im Gefängnis gesessen,
die Mauer vor Augen, den Stacheldraht,
das Aufgebot an Männern und Waffen,
die Überwachungs- und Bewachungssysteme,
flächendeckend –
Wie lange?
Jahre, Jahrzehnte, ein Leben lang?

Und nun über Nacht das Tor aufgestoßen;
der Stein ist weggewälzt,
die Wächter liegen betäubt am Boden.
und eine Stimme ruft:
Komm heraus!

Du trittst hervor aus der dunklen Höhle,
noch mit Schweißtüchern gebunden
an Händen und Füßen.
Bindet ihn los!
„Ja, bindet mich los!“

Deine ersten Schritte in Freiheit –
Du sinkst in die Knie
und erhebst die Hände zum Himmel,
überwältigt vor diesem Wunder.

Und überall wo du hinblickst
ein tausendfältiges Du,
unzählige Gesichter.
Sie lachen und weinen,
weinen und lachen.
Die kalte Wand,
die starre, tödliche Mauer
sie beginnt zu singen und zu tanzen.

Ein Brandmal, eine Wunde,
aus der ein Strom neuen Lebens quillt,
eine Woge der Freiheit,
die diesseits und jenseits das Land überschwemmt.

Helmut Rothmann

aus: Helmut Rothmann, Wendezeiten – Zeitenwende, Ein lyrischer Lebenslauf, St. Benno-Verlag GmbH, ISBN 978-3-7462-2755-9, www.st-benno.de. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der St. Benno-Verlag GmbH.

Helmut Rothmann
ist 1927 als Landarbeiterkind in Gießmannsdorf geboren, einem kleinen Dorf in Ostsachsen, einem Landstrich rechts der Neiße, der seit 1945 zu Polen gehört. Nach Krieg und Gefangenschaft in die sowjetisch besetzte Zone entlassen, sah Rothmann in der sozialistischen Revolution das Modell einer gerechteren Gesellschaftsordnung und war kurze Zeit Mitglied der SED. Nach dem Studium der Landwirtschaftswissenschaften war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Karl-Marx-Universität leipzig.
Ohne Religion und Kirche aufgewachsen, fand Rothmann auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und in der Auseinandersetzung mit der DDR-Ideologie mit 35 Jahren zum christlichen Glauben und trat 1962 in die katholische Kirche ein. 1988 – ein Jahr vor der Wende – kündigte er an der Universität und trat in den Dienst des Bistums Dresden-Meißen.
Mit seiner Frau Margot hat er fünf Kinder und zahlreiche Enkel und Urenkel. Nach Jahrzehnten als verheirateter Fokolar lebt Rothmann – nach dem Tod seiner Frau 2005 – heute im Fokolar in Zwochau bei leipzig.
Wesentliche Erfahrungen seiner Lebensgeschichte hat Helmuth Rothmann in poetisch dichte Sprache gefasst. Einige seiner Gedichte wurden veröffentlicht in dem Buch „Wendezeiten – Zeitenwende“, eine Art lyrischem Lebenslauf.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2009)
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