8. November 2009

Hoffnung wider alle Hoffnung

Von nst_xy

Helmut Rothmann, Jahrgang 1927, hat die DDR miterlebt: vom Anfang bis zum Ende, von der SED-Mitgliedschaft bis zur erbitterten Gegnerschaft gegenüber der totalitären Ideologie. Er blickt zurück auf den unerwarteten Umbruch vor 20 Jahren – in Prosa und Lyrik.

Rational betrachtet gab es nach 40 Jahren DDR kenen Grund zur Hoffnung auf einen Sturz des Systems. Nach der Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953, des Ungarn-Aufstandes von 1956, des Prager Frühlings von 1968, und der Verhängung des Kriegsrechts in Polen nach dem Aufstand der Solidarnosc, musste – angesichts der scheinbar ungebrochenen Partei- und Militärmacht des Sowjetsystems – rational gesehen alle Hoffnung auf eine revolutionäre Veränderung begraben werden.
Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Seit langem richtete sie sich auf eine mögliche innere Veränderung des Systems in Richtung von mehr Freiheit, Demokratie und Menschenwürde. Es musste doch auch innerhalb des Systems Verantwortliche geben, die in dieser Atmosphäre einer totalen Diktatur nicht atmen und leben konnten! Ansätze hatte es immer wieder gegeben, aber sie waren letztlich gescheitert und als staatsfeindliche Machenschaften geahndet worden.

Wie konnte man in dieser Spaltung – äußerlich total eingespannt in ein politisch-soziales und ideologisch-diktatorisches System und innerlich, geistig festhaltend an einem Ideal der Freiheit und Menschenwürde – als ganzheitlicher Mensch überleben?

In der Beziehung zu den Genossen und zu Vertretern des Systems versuchte ich mich nach dem Grundsatz zu verhalten: „Liebet eure Feinde“, auch wenn ich das selten hundertprozentig psychologisch und praktisch schaffen konnte. Das System dagegen und seine Ideologie, deren Herrschaft auf Angst und Gewalt beruhte, hasste und bekämpfte ich, so wie es in meiner Stellung möglich war, ohne mich und meine Familie zu gefährden.
Die Hoffnung blieb immer lebendig, wenn auch die Ratio sie immer wieder dämpfte. Das galt auch noch für die Zeit im Herbst 1989. Unmöglich, dass eine so entscheidende Bastion des sozialistischen Weltsystems, wie es die DDR Jahrzehnte gewesen war, über Nacht fallen könnte.
Der zu diesem Zeitpunkt völlig unerwartete und eigentlich unglaubliche Fall der Berliner Mauer erschütterte deshalb alle Menschen in Freude, für die es nur ein Wort gab: „Wahnsinn“ oder in Trauer und Frustration für die, die das System verkörperten und die bis zuletzt versucht hatten jeden Widerstand, jede Öffnung mit Gewalt zu verhindern.
Für Menschen, die einerseits gezwungen waren unter dieser Diktatur zu leben, andererseits aber leidenschaftlich, oft verzweifelt am Ideal der Freiheit und Menschenwürde festzuhalten versuchten, bedeutete der Fall der Mauer nicht nur ein historisches Ereignis. Er wurde für sie zum Symbol einer Lebens- und Zeitenwende und hat nicht nur politisch und weltgeschichtlich, sondern für gläubige Menschen auch heilsgeschichtlich neue Horizonte eröffnet.
Für mich wurde der Fall der Mauer zum Symbol der Freiheit und zum Symbol dafür, dass die Menschen, durch welche Mächte und Gewalten auch immer, nicht voneinander zu trennen sind.
So lebt die Hoffnung auch wider alle Hoffnung, dass – so wie die Berliner Mauer – auch andere für unüberwindlich geltende Mauern fallen werden.
Vor allem gilt das für die Mauern von Mensch zu
Mensch.
Helmut Rothmann

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2009)
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