10. März 2010

Murphy’s Bericht

Von nst_xy

Der im Dezember vorgelegte Bericht der irischen Richterin Yvonne Murphy hat Irland erschüttert. Demnach haben höchste Amtsträger der Kirche Missbrauchsvorwürfe gegen Priester jahrzehntelang vertuscht. Auch die Polizei hat alle Vorwürfe gegen Kleriker totgeschwiegen. Der Skandal – so der irische Theologe Brendan Leahy – markiert das Ende der „klerikalen Kultur“ in Irland. Er könnte aber auch eine Chance sein für ein neues Kirchenverständnis.

Die katholische Kirche in Irland steckt in einer tiefen Krise. Bischöfe treten zurück, und es werden Forderungen laut, die Kirche solle jede Trägerschaft für Schulen abgeben. Sogar der päpstliche Nuntius wurde heftig kritisiert. Ausgelöst wurde die öffentliche Wut durch den 720 Seiten umfassenden Bericht der Richterin Yvonne Murphy. Sie hatte Missbrauchsvorwürfe von 320 Kindern gegen 46 Priester in der Erzdiözese Dublin von 1975 bis 2004 untersucht und war zu dem Schluss gekommen, dass die Erzdiözese und andere kirchliche Autoritäten den Missbrauch von Minderjährigen vertuscht hatten. Natürlich sind die Fälle von Kindesmissbrauch die größte Tragödie an dieser Geschichte. Aber der Murphybericht schlägt auch tiefe Wunden in die irische Gesellschaft. Denn historisch bedingt spielen kirchliche Amtsträger in Irland in fast allen Aspekten des Lebens eine fundamentale Rolle: in Schulen, Krankenhäusern, im kulturellen, sozialen, politischen Leben. Aus dem Murphybericht wird deutlich, dass die Ehrrbietung der Kirche gegenüber selbst den Staat dazu gebracht hat, seine Verantwortung zu vernachlässigen. Das Prinzip, dass vor dem Gesetz alle gleich sind, wurde für die Kirche gewissermaßen außer Kraft gesetzt. Wenn beispielsweise Scotland Yard die irische Polizei über Verdachtsmomente gegen einen katholischen Priester informierte, dann gab diese den Fall ohne weitere Ermittlungen an den zuständigen Bischof weiter, und das war es dann.Die unmittelbare Reaktion auf den Bericht waren Rücktrittsforderungen an einige Bischöfe und hohe kirchliche Amtsträger; vier Bischöfe sind inzwischen zurück getreten. Dublins derzeitiger Erzbischof Diarmud Martin, der selbst nicht von dem Skandal betroffen ist, hat mit Nachdruck unterstrichen, dass die Verantwortung der betroffenen Prälaten offen eingestanden werden muss. Und Papst Benedikt hat im Februar alle irischen Bischöfe nach Rom gerufen. Der Bericht verlangt von der Kirche in Irland eine tiefe Gewissenserforschung. Es ist zwar bekannt, dass der prozentuale Anteil pädophil veranlagter Menschen ziemlich konstant ist, aber die Kirche muss im Rahmen all ihrer Möglichkeiten sicherstellen, dass solche Personen nicht zum Priesteramt zugelassen werden.Als erste Maßnahme haben inzwischen allein in der Diözese Dublin 2100 ehrenamtliche Helfer in den Pfarreien an Fortbildungskursen zum Kinderschutz teilgenommen. Über 7000 Personen haben die Polizei bei ihren Ermittlungen unterstützt. Darüber hinaus braucht es jedoch im gesamten kirchlichen Leben einschneidende Veränderungen. Schon vor einigen Jahren hat ein Bericht in einer anderen Diözese unterstrichen, dass auch die Ausbildung der Bischöfe verbessert werden sollte. In die Leitung und Führung kirchlicher Einrichtungen muss die gesamte kirchliche Gemeinschaft stärker einbezogen werden. Über strukturelle Veränderungen hinaus braucht es aber auch eine geistliche Erneuerung der Kirche in  Irland. Die richtige Antwort auf die Umbruchsituation kann nur entstehen, wenn jeder Gläubige und die ganze Kirche sich vom Wort Gottes leiten lassen und daraus zu verstehen suchen, was Gott heute will. Die Lage in Irland ist angespannt. Das Jahr 2009 war geprägt von der Finanz- und Wirtschaftskrise, von einer wachsenden Arbeitslosenzahl, von schweren Überschwemmungen in einigen Landesteilen. Und dann auch noch dieser Bericht! Für die katholische Kirche hat eine neue geschichtliche Phase begonnen. Erstmals fordern Priester und Bischöfe im Fernsehen, im Radio oder in den Zeitungen ihre Kollegen zum Rücktritt auf. Selbst die treuesten Katholiken kritisieren offen ihre Kirche und fordern mehr Demokratie und mehr Teilhabe. Daher ist die Einheit der Kirche eine zentrale Angelegenheit geworden. Aber es muss eine echte, nicht nur oberflächliche Einheit sein, eine Einheit in der Wahrheit, eine Einheit, die von jedem Gläubigen als Notwendigkeit empfunden und vorangebracht wird. Das kann nur geschehen im offenen Hinhören aufeinander, in der Bereitschaft, die eigenen Vorstellungen in Liebe einzubringen und gemeinsam zu verstehen, „was der Geist den Gemeinden sagt“. (Offb 2,11) Was die Kirche in Irland derzeit lebt, darf man getrost mit dem aus der Mystik stammenden Bild einer kollektiven „Nacht des Geistes“ beschreiben. Der Geist der Iren, ganz besonders aber ihrer Bischöfe, ist hart geprüft. Und dennoch wächst das Bewusstsein, dass Gott auch aus dieser furchtbaren Situation etwas Neues erwachsen lassen kann. Was es braucht, ist ein neues Verständnis von Kirche als in Christus vereinte Gemeinschaft. Im ersten Jahrtausend ist ein großer Teil der Bemühungen zur Evangelisierung Europas von Irland ausgegangen. Vielleicht kann aus dieser leidvollen Erfahrung heraus die Basis gelegt werden für eine Kirche, in der die Teilhabe aller wichtiger wird, in der die Laien den ihnen zustehenden Platz finden, in der die Gaben des Heiligen Geistes eine wichtigere Rolle spielen, in der der Sinn für die  Gemeinschaft stärker entwickelt ist. Es wäre eine Kirche, die ihr petrinisches und ihr marianisches Profil gleichermaßen anerkennen würde.

Brendan Leahy

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März 2010)
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