10. Juni 2010

On the track

Von nst_xy

Gedanken über Filmmusik heute

Filmmusik braucht ein musikdramatisches Konzept, so Enjott Schneider, der deutsche Papst der Filmmusik. Vorbild sind Fassbinder, Schroeter, Achternbusch, Herzog. Sie wussten um die zentrale Rolle von Musik in Filmen. Bei „Spiel mir das Lied vom Tod“ gab es sogar zuerst die Musik von Ennio Morricone, danach den Dreh – und die Musik bleibt im Ohr. Meist kommt der Komponist erst nach dem Feinschnitt hinzu. Solange wird auf „Temptracks“ (Musik aus der Konserve) geschnitten. Das behindert den Musiker in seiner Kreativität. Gut, wenn der Komponist selbst die „Temptracks“ wählen kann; Niki Reiser („Jenseits der Stille“, u.a.) besteht darauf.

Erfreulicherweise bekommt im europäischen Kino Musik wieder mehr Raum – und Geld! Nach amerikanischem Vorbild realisierte Henning Lohner beispielsweise in Marcello, Marcello“ ein aufwändiges Musikkonzept. Die gesamte Klaviatur der musikdramatischen Rhetorik – von „Mickey-Mousing“ (ironisch rhythmischem Slapstick in Echtzeit oder schneller), authentischem Source-Musiken im „on“ (d.h. in der Filmszene), romantischen Originalorchestern und inhaltlicher Kontrapunktik bis zum Rock’n Roll – fährt Lohner auf, um anrührend bis komisch die Kraft der ersten Liebe zu illustrieren.

Gabriel Yared, Oscarpreisträger und Musiker von „Der englische Patient“ und „Die Eleganz der Mme Michel“, komponiert epenhaft mit variierter Leitmotivtechnik und flechtet so neue wichtige Bezüge. Sein Schüler Stéphane Moucha entschied sich zusammen mit Max Richter – der für die Musik zu „Waltz with Bashir“ 2008 den Europäischen Filmpreis erhielt – und Feo Aladag (Regie) in „Die Fremde“ für eine Mischung aus trauriger Ambientmusic und Minimalmusic im Stil von Philip Glass.

Aber auch mit wenig Geld kann professionell und musikalisch überzeugend produziert werden. In „Keep surfing“ groovt die Musik von HipHop DJ Lee Buddha (Philip Steger) zum halsbrecherischen Wellenreiten der Eisbach-Surferfreaks.

Sehr stimmig geht auch das Konzept von Christoph Heller (Regie) und Christof Vonderau (Musik) in „Mein Vater. Mein Onkel“ auf: Sinan ist in Deutschland aufgewachsen. Im Alter von 27 Jahren trifft er in Dubai zum ersten Mal seine leiblichen Eltern. Außereuropäische Melodien und asymmetrische Rhythmen über Akkordeonclustern, Percussion und in Dubai zunehmend Saz, eine orientalische Laute, erfüllen die Aufgabe, die geballten und doch oft verpanzerten Emotionen des verlorenen Sohnes Sinan zu zeigen und über den gesamten kunstvollen Dokumentarfilm hinweg auszubalancieren.

Insgesamt eignen sich schöne, aber unfertige, fragmentarische Klänge oder Motive am besten für die Verbindung von Ton und Bild. Fertige Songs – wie in „soul kitchen“ von Fatih Akin – verschlingen nur teure Gebühren für die Rechte, die man besser einem guten Musiker zahlen sollte.
Nina von Waechter

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2010)
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